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Rotis: Licht und Schatten

Was ist aus Otl Aichers einstigem Domizil geworden? Ein Ortsbesuch im Allgäu

Foto: Gerrit Terstiege

Als Wohn- und Arbeitsort Otl Aichers ist Rotis im Allgäu legendär. Welche andere Wirkungsstätte eines Designers ist so sehr zum Mythos geworden, so sehr mit einer Gestalterpersönlichkeit verbunden? Rotis war Wagnis und Vision – und zugleich ein Experiment, bei dem es um weit mehr ging als Gestaltung. Was ist geblieben?

Es sind nur fünf Buchstaben: ein r, ein o, ein t, ein i und ein s. Doch mit dem Wort Rotis, diesen zwei Silben, verbinden sich heute derart viele Legenden und kolportierte Geschichten, dass es Zeit ist für eine Neubewertung – aus der Nähe, um wieder Distanz zum Mythos zu gewinnen. Verklärungen und Verzerrungen umranken heute jene 19 Jahre von 1972 an, in denen Aicher Leben und Arbeit untrennbar zu vereinen suchte. Und dies an einem Ort, der gänzlich abgelegen war, in der tiefen Provinz. Mit dem Begriff „Design“ verbinden sich noch immer Assoziationen von Urbanität, Eleganz und Glätte. Aicher rebellierte bewusst gegen diese Zuschreibungen und entwarf sein Gegenmodell auf einem ehemaligen Mühlenanwesen in der Nähe von Leutkirch im Allgäu.

Der bäuerliche Ort mit langer Tradition – erstmals erwähnt 1414 – liegt inmitten einer hügeligen Landschaft, die bis heute geprägt ist von vereinzelten kleinen Wäldern und sich weit hinziehenden Wiesen. Aicher muss bei seiner Entscheidung für diesen Weiler als Lebens- und Arbeitsort bewusst gewesen sein, dass sich dort alles um seine Person drehen würde: Er machte sich absichtsvoll zum Zentrum eines selbstgeschaffenen Universums – zum Fixstern, zum Spiritus Rector. Damit schuf er für seine Familie, für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Situation, die Ruhe, frische Luft und viel Natur bot – aber auch mit Einschränkungen und Entbehrungen einherging. Für Deutschland mag man vielleicht gewisse Parallelen sehen zwischen Rotis und der Künstlerkolonie Worpswede. Aber diese ist seit ihrer Gründung im ausgehenden 19. Jahrhundert Heimat für eine größere Gruppe von wechselnden, gleichgestellten Künstlerinnen und Künstlern – und war sicher kein direktes Vorbild für Aicher. Rund 60 Jahre vor ihm hatte Frank Lloyd Wright mit „Taliesin” in der Einöde von Wisconsin einen ähnlichen Ort konzipiert, an dem Leben und Arbeiten verschmelzen sollten. Wisconsin war sein Heimatstaat – so wie Württemberg Heimat Aichers war. Die Verortung in vertrauter ländlicher Umgebung war beiden wichtig.

Links: Wohnhaus, rechts: das Ökonomie-Gebäude, einst war hier die „Rotisserie” untergebracht. Foto: Gerrit Terstiege.

Links: Wohnhaus, rechts: das Ökonomie-Gebäude, einst war hier die „Rotisserie” untergebracht. Foto: Gerrit Terstiege.

Im Corporate Design gesteht man Markenzeichen einen „Schutzraum” zu, in dem keine weiteren grafischen Elemente erlaubt sind, um eine Marke besser zur Geltung kommen zu lassen. Auch in anderen Disziplinen, in denen Aicher tätig war, wie Plakat- und Buchgestaltung, Typografie oder Fotografie, spielt Raum als gestaltender Faktor eine wichtige Rolle. Manches Zeichen wirkt erst durch die gesetzten Distanzen, durch Abstände und Freiräume. In diesem Sinne ist Rotis deutlich das Konzept eines grafisch denkenden Menschen. Was Rotis noch heute, über 30 Jahre nach Aichers Tod, einzigartig macht: Es gibt schlichtweg keinen vergleichbaren Arbeitsort, der von einem namhaften Designer über lange Jahre genutzt wurde und noch erhalten ist. Das kleine Stellwerk-Gebäude, das Kurt Weidemann in Stuttgart zu einem kurios ausstaffierten Studio gemacht hatte, ist nach seinem Tod aufgelöst und einer neuen Nutzung zugeführt worden. Erik Spiekermann war lange mit dem Sitz der von ihm mitgegründeten Agentur MetaDesign in der Berliner Bergmannstraße assoziiert. Aber auch diese Verbindung zwischen Person und Arbeitsort ist längst Vergangenheit.

Im Design ist es ja meist so: Fabrik-Etagen oder ganze Gebäude werden angemietet, Vergrößerungen oder Verkleinerungen der Teams machen Umzüge notwendig und nach dem Ableben von Protagonisten ändern sich die Dinge oft grundlegend. Wenig oder nichts bleibt. Von einer kulturhistorischen Bedeutung, wie sie die ehemaligen Wohn- und Arbeitsstätten von Künstlern und Literaten besitzen, etwa der noch erhaltene Turm von Montaigne, das Atelier von Cézanne oder das Goethe-Haus, kann im Design kaum die Rede sein. Rotis bildet hier eine Ausnahme und ist noch heute weit über die Grenzen Deutschlands hinaus ein Begriff. Zu dieser Bekanntheit trug zweifellos die gleichnamige Schrift Aichers bei, die er 1988 veröffentlichte und deren enorme, auch internationale Popularität Aicher nicht mehr erleben sollte. Drei Jahre später starb er – bei einem Unfall, der sich auf der Landstraße zugetragen hatte, die direkt neben dem Gebäudekomplex von Rotis verläuft. Die tragischen Umstände wurden oft falsch dargestellt und sind mittlerweile Teil der Legenden, die sich um Rotis ranken. Aicher fuhr auf einem Sitzrasenmäher von einem nahen, neben der Landstraße liegenden Gartengrundstück Richtung Hof und wurde für einen Motorradfahrer zum plötzlichen Hindernis. Er erlag seinen Verletzungen sechs Tage später, am 1. September 1991, in einem Günzburger Krankenhaus. Rotis ist heute auch mit diesem Unfall verbunden.

Hofeinfahrt und das Gebäude 14 samt Stellplätzen für Autos im Erdgeschoss. Foto: Gerrit Terstiege

Hofeinfahrt und das Gebäude 14 samt Stellplätzen für Autos im Erdgeschoss. Foto: Gerrit Terstiege

Direkt an Rotis grenzt noch heute eine Landstraße – sie wurde Aicher zum Verhängnis. Foto: Gerrit Terstiege

Direkt an Rotis grenzt noch heute eine Landstraße – sie wurde Aicher zum Verhängnis. Foto: Gerrit Terstiege

Wer sich im Frühjahr 2022 über gewundene Straßen Rotis nähert, kann das nur mit gemischten Gefühlen tun. Die Fahrt muss unweigerlich zu einer Reise in die Vergangenheit werden – in ein untergegangenes Reich? Die Bilder, die ich im Kopf habe von Gebäuden, Räumen, Wegen, Bäumen und Wiesen, sind von den vornehmlich in Schwarzweiß gehaltenen Fotografien eines Karsten de Riese oder eines Timm Rautert geprägt. Viele davon sind weit über 30, manche über 40 Jahre alt. Wie verlassen, wie einsam, wie verändert werde ich Rotis vorfinden? Und noch ein weiterer Aspekt trägt zur Ambivalenz bei, die man verspüren mag, wenn man an das heutige Rotis denkt: In Torben Beckers Beitrag im Zeitmagazin 19/2021 wurde deutlich, dass die Beziehung der drei Aicher-Söhne Florian, Julian und Manuel, die jetzt wieder in Rotis wohnen, nicht einfach ist. Dort nennt Florian Aicher das Verhältnis der Brüder „sachlich”. Aber Becker schreibt auch von jüngsten Spannungen: „… seit Julian Aicher bei den Querdenkern aktiv ist, ist in Rotis alles kompliziert geworden. Doch darüber reden die Brüder nicht. Eigentlich reden sie kaum miteinander.” Während sich Julian Aicher bei öffentlichen Auftritten damit schmückt, Neffe der Geschwister Scholl zu sein, lehnt Florian Aicher eine solche Vereinnahmung der von den Nazis hingerichteten Geschwister ab: ebenfalls öffentlich – etwa in Form eines gemeinsam mit anderen unterzeichneten Schreibens.

In Rotis angekommen bin ich überrascht, als erstes auf dem Rasen neben einem der Häuser spielende Kinder zu sehen. Es ist ein sonniger Frühlingstag, der Himmel wolkenlos, die Stimmung heiter, voller Gegenwart. Im ehemaligen Ökonomiegebäude ist heute eine freie Grundschule untergebracht. Es ist gerade Pause, es wird getobt und gelacht. Wie ich später erfahre, kann man allein an diesem Gebäude und seinen diversen funktionalen Umwidmungen viel von der Geschichte von Rotis festmachen. In einem Teil des früheren Pferde-, Kuh- und Schweinestalls war seit den frühen 1970er Jahren eine Druckerei angesiedelt, die auf eigene Rechnung arbeitete. Als diese Mitte der 1980er Jahre auszog, nutzte Aicher die Räume selbst: Hier entwickelte er die Schrift „Rotis“. Und nebenan, im früheren Kuhstall mit seinem Böhmischen Gewölbe, gab es die „Rotisserie” genannte Kantine, wo seine Teams gemeinsam aßen und feierten. Gleichzeitig wurde der Stall als Tagungsraum für Veranstaltungen genutzt.

Die durchdachte und noch komplett erhaltene Küche im Wohnhaus der Aichers. Foto: Gerrit Terstiege

Florian Aicher und seine Frau Gabriele Hirth begrüßen mich und meinen Begleiter herzlich. Weil wir um die Mittagszeit ankommen, werden gleich köstliche Maultaschen aufgetischt – und wir können die berühmte, von Otl Aicher konzipierte Küche im Wohnhaus in Augenschein nehmen. Sie wurde zu einem Musterraum für den Hersteller und langjährigen Aicher-Kunden Bulthaup und ist als Linienzeichnung auf dem Cover von Aichers Buch „Die Küche zum Kochen – Das Ende einer Architekturdoktrin” dargestellt. In ihrem Zentrum: ein Arbeitstisch. Florian Aicher deutet auf ein quadratisches Loch in der schweren hölzernen Arbeitsplatte; er spricht von seinem Vater in der dritten Person: „Aicher scherzte mal, dass dieses Loch, dieses Nichts, das Wichtigste gewesen sei, was er als Designer geschaffen habe.” Blickt man in das Loch, versteht man seinen Sinn: Obst- und Gemüseabfälle können sofort entsorgt werden, sie fallen in einen darunter stehenden Eimer und können später dem Kompost zugeführt werden. So ist der Arbeitstisch im Handumdrehen wieder frei für weitere Zubereitungen. Über ihm hängt ein quadratisches Gitterelement, das Messer an einer Magnetleiste, Schneebesen und weitere Küchenutensilien bereithält. Einfachheit, klare Aufteilungen und ein Konzept der kurzen Wege bilden hier eine schlüssige Einheit.

„Was Rotis noch heute einzigartig macht: Es gibt keinen vergleichbaren Arbeitsort, der von einem namhaften Designer genutzt wurde und noch komplett erhalten ist.“

In den Wohnräumen der Aichers finden sich zahlreiche Kunstwerke an den Wänden. Zeichnungen, Collagen, Aquarelle. Auch ein großer schwarzer Box-Sack, der zwischen Flur und Wohnzimmer hängt, ist ein Kunstwerk. Er war Teil einer Installation von Wolfgang Flatz auf der Documenta IX. In den Regalen: Kunst- und Architekturbücher; neben einer „atelier”-Anlage von Braun stehen Schallplatten von Bob Dylan, Hank Williams und Howlin‘ Wolf. Sie werden ergänzt durch ein CD-Regal mit Billie Holiday, Nina Simone, John Coltrane und Glenn Gould. Der Architekt und seine Frau wohnen hier seit 2005. Florian Aicher spricht mit freundlicher leiser Stimme, weist mich aber bald darauf hin, nicht das Grundstück seines Bruders Julian zu betreten oder zu fotografieren. Auch das nebenstehende, mittlerweile verkaufte Haus wird heute von Personen bewohnt, die Begehungen und Fotos untersagt haben. Zwei der von Otl Aicher entworfenen Gebäude sind somit nicht näher zu besichtigen. Er holt einen Lageplan hervor, der die heute sieben Gebäude von Rotis zeigt und zieht mit dem Zeigefinger die Grenze, die es zu beachten gilt.

Wir gehen nach draußen auf eine Terrasse mit angrenzendem Garten, vorbei an einem der schwarz gestrichenen Studiohäuser mit Sheddächern, die sein Vater entworfen hat. Früher diente jenes Exemplar als Fotostudio, heute steht es leer; das heißt: fast. Hier lagern in Regalen Belegexemplare von Büchern, die von Aicher und seinem Team gestaltet wurden – und in Grafikschränken liegen etliche der berühmten Olympia-Plakate. Auf einem der wenigen noch verbliebenen Arbeitstische: gestreifte Aufkleber mit dem Wort „Regenbogenspiele” und ein dünnes Programmheft. „Schlußfeier der Spiele … Olympiastadion, 11. September 1972, 19.30 Uhr”, lese ich auf dem Titel und erinnere mich plötzlich wieder daran, wie ich vor dem elterlichen Fernseher als Vierjähriger weinen musste, weil die Olympischen Spiele zu Ende gingen. Warum die vom berühmten Theatermann August Everding geplanten Feierlichkeiten überschattet waren, wusste ich damals nicht.

In Grafik-Schränken lagern heute noch zahlreiche Plakate. Foto: Gerrit Terstiege.

Überbleibsel einer großen Zeit: Drucksachen der „Regenbogenspiele”. Foto: Gerrit Terstiege

In Grafik-Schränken lagern heute noch zahlreiche Plakate. Foto: Gerrit Terstiege.

Überbleibsel einer großen Zeit: Drucksachen der „Regenbogenspiele”. Foto: Gerrit Terstiege

Zurück in die Gegenwart – in diesen Raum voller Vergangenheit. An einer der holzvertäfelten Wände hängt, von langen Spinnweben bedeckt, ein graues Telefon mit Wählscheibe. Ihr runder Innenteil listet noch, als sei die Zeit stehen geblieben, die Namen und Kurzwahl-Nummern von wichtigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Aichers aus längst vergangenen Tagen auf, etwa: „bettrich, netzer: 21, neudecker: 22, landsbek: 23”. Das tote Telefon: ein melancholisches Sinnbild. Lange stehe ich davor. Dann gehen wir die steile Treppe herunter und treten ins Freie. Gleich hinter dem ehemaligen Fotostudio öffnet sich der Blick auf eine von Bäumen umsäumte große Wiese. Florian Aicher hat in einem Text über Rotis, fern jeglicher Überhöhung, mit dem sachlichen Ton eines Architekten die Historie des Ortes beschrieben; auch die Weite, auf die wir jetzt blicken: „Die Anlage des parkähnlichen Außenbereichs erforderte Melioration der vegetationsarmen Schotterflächen, einst Holzlager der Sägemühle. Hunderte Bäume, etwa ein Dutzend heimische Arten, wurden als kulissenartige Gruppen gepflanzt, Gehege zum umliegenden Bauernland.”

Das Wand-Telefon listet die Namen ehemaliger Team-Mitglieder auf. Foto: Gerrit Terstiege

Auf dieser Wiese, die durch eine schmale, stillgelegte Straße durchtrennt wird, bekommt man den nötigen Abstand zu Aichers Architekturen mit den markant gezackten Dächern. Erst hier wird mir klar, dass der Grafikdesigner bei ihrem Entwurf ein bestimmtes Bild im Kopf gehabt haben muss: das Piktogramm einer Fabrik. Die von Aicher konzipierten Häuser sind Embleme für Rotis geworden und gerade von der Seitenansicht haben sie einen klaren Zeichencharakter, der noch betont wird durch den schwarzen Anstrich fast aller Bauelemente. Florian Aicher: „Er hatte für einen anderen Ort im Allgäu entworfen – Gebäude im Stil von Le Corbusier, auch eine Art Hochhaus. Vieles wurde wieder verworfen. Auf diesen Erkenntnissen beruhen die Entwürfe für Rotis. Man muss wissen, dass die neuen Gebäude, die hier unschuldig auf der Wiese stehen, als seien sie vom Himmel herabgesunken, allesamt alte Gebäude ersetzten, die an ihren Plätzen standen. Auf dem Land dürfen nur Bauern bauen – das war sicher mit ein Grund, warum Aicher sich an den bestehenden Gebäudeplan hielt.”

Aber warum dockte Otl Aicher die Arbeitsräume auf? Die Einschätzung seines Sohnes Florian: „Über diese angehobenen Bauten kann man viele Vermutungen anstellen. Es gibt vielleicht zwei Motive. Das eine ist die Landschaft durchgehen zu lassen, den Blick nicht zu verstellen. Mir wird immer klarer, dass der Einbezug der Landschaft für Aicher zentral war. Und das andere Motiv: Für meinen Vater gab es einen Heiligen in der Architektur und das war Le Corbusier. Bei der Villa Savoye geht Corbu ähnlich mit dem Raum um; er lässt das Gebäude schweben. Aber Aicher wollte ihn natürlich nicht kopieren – auf Fensterbänder zum Beispiel hat er verzichtet.” Norman Foster, der mehrfach Rotis besucht hat, schätzte Aicher auch als Architekten. Etwa in einem Beitrag für die Zeitschrift Arch+ schreibt Foster: „Im Büro habe ich meinen Mitarbeitern immer wieder gesagt, sie könnten sehr viel davon lernen, mit Otl zusammenzuarbeiten und ihm zuzuhören. Erklärend fügte ich dann hinzu, Otl sei nicht nur ein brillanter Designer und ein besserer Architekt und Möbelgestalter als die meisten, sondern zuerst und vor allem Philosoph.”

Die Sheddächer erinnern an das Piktogramm einer Fabrik. Foto: Gerrit Terstiege

Die Sheddächer erinnern an das Piktogramm einer Fabrik. Foto: Gerrit Terstiege

Otl Aicher hat diesen Hof, dieses Gelände entwickelt und bewusst verändert – also gestaltet, und zwar im Sinne einer Philosophie des Machens, die sein Formbewusstsein erkennen lässt, bis heute. Gleichwohl brachten die Arbeitsgebäude auch gewisse Probleme mit sich, die ein ausgebildeter Architekt sicher vorausgesehen hätte. Zum einen klimatische. Florian Aicher bringt sie bei der gemeinsamen Begehung auf den Punkt: „In den Gebäuden trug man im Winter Moonboots, im Sommer kurze Hosen.” Durch das Aufständern der Arbeitsräume kam die Kälte im Herbst und Winter nicht nur durch die kaum gedämmten Wände, sondern stieg auch vom Boden hoch. Auch das getrennte Arbeiten der Teams in den verschiedenen Gebäuden war gewiss nicht ideal für den Zusammenhalt. Aicher suchte das Manko durch gemeinsame Essen auszugleichen. Elena Schwaiger, geborene Winschermann, die „Waldi-Mama”, war in der Anfangszeit in Rotis, aber nur für ein Jahr, von 1973 bis 1974: „Es war mir dort zu einsam. In Leutkirch werden um sechs Uhr abends die Bürgersteige hochgeklappt. Am Wochenende bin ich nach Zürich oder Winterthur gefahren, um einfach mal andere Menschen zu sehen. Ich wollte da nicht noch einen Winter verbringen. Das war für mich einfach nicht mehr machbar.”

Florian Aicher in dem von seinem Vater angelegten Garten. Foto: Gerrit Terstiege

Als wir glauben, bereits alles gesehen zu haben, führt uns Florian Aicher zu einem benachbarten versteckten Grundstück: Das also ist der Garten von Rotis. Für Aicher senior war er ein Beitrag zu einem autonomen Leben; einer selbstbestimmten Versorgung, zu der etwa auch die Stromerzeugung durch ein eigenes Wasserkraftwerk gehört, das den Fluss Ach nutzt. Doch nehmen die zahlreichen Betonkübel, die er eigens für die Hochbeete herstellen ließ, dem Landstück jegliche Romantik. Die Kübel wirken auf mich wie eine brutalistische Siedlung im Kleinformat. Aber hier steht ein letztes Gebäude, das von Aicher entworfen wurde und das kaum bekannt sein dürfte. Es ist das einzige, das wieder ganz auf dem Boden steht. In dem Schuppen mit Schrägdach lagern heute noch Schubkarren und andere Gartengeräte. Florian Aicher erklärt uns, warum dies ein für seinen Vater wichtiger Ort war: „Hierhin hat er sich am Ende seines Lebens gern zurückgezogen. Hier fand er zur Kunst, zur Bildhauerei zurück, im Geheimen, und schuf die Büsten von Hans und Sophie Scholl. Und hier war er auch gewesen, allein, kurz vor dem Unfall.” Ein Kreis hatte sich geschlossen.

Von Otl Aicher entworfener Schuppen – hier zog er sich gegen Ende seines Lebens zurück, um zu bildhauern. Foto: Gerrit Terstiege

Der Fluss Ach wird auch heute noch zur Stromerzeugung genutzt. Foto: Gerrit Terstiege

Von Otl Aicher entworfener Schuppen – hier zog er sich gegen Ende seines Lebens zurück, um zu bildhauern. Foto: Gerrit Terstiege

Der Fluss Ach wird auch heute noch zur Stromerzeugung genutzt. Foto: Gerrit Terstiege

Gerrit Terstiege (*1968) studierte an der KISD u.a. bei Gui Bonsiepe und dem Aicher-Mitarbeiter Heiner Jacob sowie an der Glasgow School of Art. Er war lange Jahre Chefredakteur der Designzeitschrift form. Terstiege führte zahlreiche Interviews mit Absolventen der HfG Ulm, darunter Alexander Neumeister, Franco Clivio und Reinhold Weiss. Heute arbeitet er als Berater für Design-Unternehmen, lehrt an Schweizer und deutschen Hochschulen und ist als Journalist und Texter an den Standorten Freiburg und Mülheim/Ruhr tätig. Terstiege schreibt regelmäßig für Zeitschriften wie Art, Mint und Rolling Stone sowie für Webseiten wie ndion.de und monopol-magazin.de. Darüber hinaus ist er Herausgeber der Bücher „The Making of Design“, „Grafische Räume“ und „Gestaltung denken“ (zusammen mit Thomas Edelmann).