What’s become of Otl Aicher’s former abode? A visit to the Allgäu.

What’s become of Otl Aicher’s former abode? A visit to the Allgäu.
Interviewed: Erik Spiekermann, type designer, author and Aicher critic.
Technology: a central notion and fixed point of perspective in the work of Otl Aicher.
The British architect Norman Foster on his friendship with Otl Aicher: He had absolute integrity.
Thoughts on the colour palettes of Otl Aicher.
Absolute sharpness, reduction and strict rules determine the character of his pictures: Otl Aicher as photographer.
Under Otl Aicher’s direction, designers, architects and landscape planners shaped the face of the Olympic Games 1972.
Inge Aicher-Scholl preserved the legacy of the White Rose.
An interview with design icon Stefan Sagmeister about typefaces, beauty and the legacy of Otl Aicher.
The International Design Center Berlin (IDZ) invites you to a slide show and panel talk at Architektur Galerie Berlin on 20 October. Karsten de Riese and Prof. Michael Klar will report on a photo reportage commissioned by BMW that took them to Tunisia in 1975 together...
On the occasion of the 50th anniversary of the 1972 Olympic Games, the IDZ invites you to a discussion on the vision of the Munich Games and the status quo as well as the future of the Olympic movement on 26 August. The event at Berlin’s Akademie der Künste on Pariser...
Isny im Allgäu owes Otl Aicher a corporate design that is concise, bold and singular.
With a retrospective of Otl Aicher’s book “kritik am auto – schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter” (Criticism of the Car – Difficult Defence of the Car against its Worshippers) published in 1984, the IDZ continues its series of events on the “otl...
Today marks the centenary of Otl Aicher’s birth. The International Design Center Berlin (IDZ) is taking this date as an opportunity to pay tribute to this great designer. With otlaicher100.de, a new online platform is being launched – a curated space that provides...
Reflections on Inge Aicher-Scholl and Otl Aicher.
The International Design Center Berlin (IDZ) is taking Otl Aicher’s centenary as an opportunity to pay tribute to this great designer and to make his work visible. An online platform and a series of events will address Otl Aicher’s multifaceted cosmos of topics and...
Eine Stadt leuchtet: Mit seinem farbenfrohen Erscheinungsbild der XX. Olympischen Sommerspiele 1972 setzte Otl Aicher ein Signal. Die junge Bundesrepublik war in der Moderne angekommen.
Otl Aicher’s Poster displays for the Ulmer Volkshochschule (Ulm Adult Education Centre).
From O to R: Let’s talk about a hedgehog, standardisation and neurotis for a change (please click on the letters).
Otl Aicher’s Dept. XI team: the visual identity of the Munich ’72 Olympics was the work of graphic designers, illustrators and technical staff from all over the world.
Aicher’s childhood and youth: the years 1922 to 1945.
Otl Aicher’s signage systems for airports, metro stations and hospitals are considered exemplary to this day.
Der einstige Braun-Chef-Designer im Gespräch über den Co-Gründer der HfG.
A Broadcast: What is his place in today’s world?
The Aichers: a brief family history.
Drawing in Rotis: former Aicher co-worker Reinfriede Bettrich talks about hand sketches, the first computers and everyday life at the office.
How Otl Aicher’s papers and materials came to the HfG-Archiv/Museum Ulm.
Die Küche zum Kochen (The Kitchen for Cooking) – the genesis of a book that has lost none of its relevance.
How a dachshund conquered the world: former Aicher staff member Elena Schwaiger on plush animals, fakes and the authentic mascot of the 1972 Olympic Games in Munich.
Le Violon d’Ingres or An Attempt to Defend the Writings of Otl Aicher.
Otl Aicher as the architect of Rotis.
Otl Aicher and his critique of the automobile.
First broadcast: 15.02.1971 on Bayerischer Rundfunk, Munich (Only available in German).
Interviewed: Jürgen Werner Braun on his collaboration with Otl Aicher.
They created the signature of an epoch: designers Otl Aicher, Willy Fleckhaus, Anton Stankowski and Kurt Weidemann.
Polis, Oikos und Arkadien: Aicher wollte Gegensätze vereinen. Seine Idealstadt sollte Fabrik-, Park- und Gartenstadt zugleich sein. Sein eignes Domizil dachte er sich als Monasterium. Aichers Beschäftigung mit dem Bauen begann früh und währte ein ganzes Leben. Als 24-jähriger Autodidakt verfasste er ein Buch über Stadtplanung – es blieb unveröffentlicht. In den Jahren vor seinem Tod entwarf der mittlerweile weltberühmte Grafiker „Denkfabriken“ in größtmöglicher Abgeschiedenheit, 1989 schließlich einen Gebäudekomplex ohne Fenster nach außen. In einem Gefängnis wohnen, in der Fabrik denken – ihm schien das keineswegs abwegig. Auch diese Pläne blieben Papier und wurden später vergessen. Es ist an der Zeit, Aichers Architekturphantasien zu entdecken – und kritisch zu befragen.
Im April 1988 zeichnet Otl Aicher ein Hausbausystem auf Stelzen. Die im Nachlass „Denkfabrik“ benannten Entwurfsskizzen 1 erkunden die Möglichkeiten eines räumlichen Rasters – acht Felder breit, zwei Felder tief, drei Felder hoch. In der Kavalierperspektive entwickelt Aicher ein konzeptionelles System aus Linien, getragen von der Logik gleicher Teilungen.
Aichers Skizzenfolge von 1988 ist grafisch, geometrisch, systematisch, minimalistisch. Sie wirkt schwerelos und zugleich logisch, getragen von einem spezifisch modernen Zugang: Modularität und Ortlosigkeit dominieren. Materialität, handwerkliche oder traditionelle Formen spielen indes keine Rolle.
Aichers erste Entwürfe für eine Denkfabrik: Die Zeichnungen aus der Kavalierperspektive zeigen ein Hausbausystem auf Stelzen. Entwurf: aus dem Jahr 1988. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.568
Aichers erste Entwürfe für eine Denkfabrik: Die Zeichnungen aus der Kavalierperspektive zeigen ein Hausbausystem auf Stelzen. Entwurf: aus dem Jahr 1988. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.568
Scheinbar schwerelos: das Hausbausystem auf Stelzen, Aichers Denkfabrik. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.568
Ein Buch der Freiheit
Diese Skizzen von 1988 illustrieren eine Haltung, die Aichers lebenslange Auseinandersetzung mit dem Bauen grundsätzlich bestimmt. Die entscheidenden Einflüsse benannte Aicher 1985 in der Autobiographie „innenseiten des kriegs“. Es sind einmal die ersten zwei Bände der Werkmonographie Le Corbusiers, die während der NS-Zeit in Deutschland kaum zu erhalten war. 2 Aicher charakterisiert sie als „das für mich bedeutendste politische buch“. Es sei, schreibt Aicher, „ein buch der freiheit. nicht ein buch über die freiheit, sondern der freiheit selber.“ 3
In „innenseiten des kriegs“ stellt er die Begegnung mit den Arbeiten des französisch-schweizerischen Architekten in Beziehung zur Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl: Es sind Wendepunkte seines Lebens. Le Corbusiers Arbeiten sind Aicher Beispiel für ein auf den Menschen ausgerichtetes, einsichtiges und unbekümmertes „denken und machen“. Er schreibt: „nicht addierte funktionalität, sondern systematische und ästhetisch kontrollierte ordnung. aber eben eine offene, begründete, glaubwürdige ordnung.“ 4 Sie werden Schlüssel für ein neues Weltverständnis: „die welt von dingen zu säubern, die sie nur verstellen!“ 5
Bücher der Freiheit: In der NS-Zeit waren für Aicher die ersten beiden Bände der Le Corbusier-Werkausgabe eine Offenbarung. „mir ist das wirkliche der freiheit, nicht nur das formale, aufgegangen über das auge, über das werk von le corbusier.“ Die Umschläge von Corbusiers Œuvre complète gestaltete Max Bill, der auch als Herausgeber des 3. Bandes fungierte. Der 8. Band – Les dernières Œuvre – erschien erst 1970, fünf Jahre nach dem Tod von Corbusier. © Hans Girsberger, Les Editions d’Architecture Artemis / Birkhäuser / De Gruyter, Basel
Der zweite Einfluss begegnete Aicher in den „ohne rücksicht auf wohnzimmerkultur und ladengeschmack“ 6 zweck- und ingenieurmäßig gestalteten Maschinen und Ausrüstungsgegenständen der Schlachtfelder: die Rationalität der Technik. „kein versatzstück täuschte hier etwas vor. die kunstgeschichte war entlassen.“ 7 „technik offenbarte eine ästhetische faszination. welt war nicht mehr nur geschichte, sondern entwurf.“ 8
Gegen den Architektengeist
Es wundert wenig, dass die von Le Corbusier in der „Charta von Athen“ mitformulierten Prinzipien der Funktionentrennung für Aicher Leitlinien für den Städtebau des Wiederaufbaus darstellten. Er konstatierte Ende 1946 im Vorwort für ein nie erschienenes Städtebau-Buch: „Die Technik hat nicht nur die Welt, sie hat den Menschen verändert.“ 9 Aus technologischer Notwendigkeit und zugleich als ethisches Gebot folgt daraus der Imperativ zur Neuplanung von Stadt und Lebenswelt. Der Wehrmachtsdeserteur von 1945 argumentierte mit den Kriegserfahrungen seiner Generation: „Wir sind eben aus dem Krieg heimgekommen. Es war nicht nur eine Abwesenheit von Zuhause. Er hat uns vieles gelehrt, wovon die noch nicht ahnen, die daheim geblieben sind. Wir haben gelernt, wie man die Erde verwandeln kann. Und was der Krieg verwandelte, soll dem Frieden nicht möglich sein?“ 10
Stadtgestaltung, so Aicher, beruht auf vernünftiger, übergeordneter Planung. Grund und Boden werden kommunales Eigentum. 11 Dies impliziert eine Absage an Baufreiheit und Liberalismus. „Es ist billige Demagogie, von Freiheit zu reden, wo Ordnung sein muss“. 12 Durch „Schmitthennerei“ 13 und „handwerkliche Mittelalterlichkeit“ 14 lasse sich die historische Stadt, die ohnehin ein „durcheinandergeworfener Unrat“ 15 sei, nicht retten; „deshalb hat die Jugend das Recht, Einspruch zu erheben gegen den Architektengeist, der heute die Städte verdirbt“ 16
Gestalter in vielen Rollen: Aicher als Grafiker, Architekt und Stadtplaner. Foto: Hannes Rosenberg, HfG-Archiv / Museum Ulm.
Gestalter in vielen Rollen: Aicher als Grafiker, Architekt und Stadtplaner. Foto: Hannes Rosenberg, HfG-Archiv / Museum Ulm.
Wider den konservativen Geist: Aicher stellt mithilfe eines Modells seine Pläne für eine Neubebauung des Ulmer Münsterplatzes vor. Projekt an der Volkshochschule Ulm, 1950. Foto: Hannes Rosenberg, HfG-Archiv / Museum Ulm
Aichers Urteil fällt auch deshalb so hart aus, da er einen konservativen Wiederaufbau mit den Propagandabildern von „Rasse, Blut und Boden“ 17 der NS-Zeit verbindet. „Diese Hitlerarchitektur der Volksverbundenheit ist aber blinder sentimentaler Kitsch.“ 18 In diesen einführenden Passagen heißt es dann: „Keinem Menschen mutet man es zu, in einem Irrenhaus oder in einem Heim mit verwachsenen Menschen zu leben. Er geht dabei zugrunde. Und noch viel weniger wird man in Zukunft Menschen zumuten können, in verkrüppelten Städten zu wohnen, in denen er an Leib, Sinn und Geist verkommt, wie es die alten Grossstädte genügend beweisen.“ 19 Die neue Stadt ist anders, „Fabrikstadt und Gartenstadt zugleich, geprägt von „Dezentralisation bis zum individualistisch abgeschlossenen Eigenheim“. 20
Wenig später adaptiert Aicher diese Gedanken für den von der Ulmer Volkshochschule ausgelobten Wettbewerb „Ulm im Jahre 2000“. Sein Beitrag skizziert in Text und Bild die Vision einer Stadtlandschaft, die entlang großzügiger Verkehrsachsen in das Land ausgreift. Um die Negativfolgen der Großstadt („Grab aller Gesundheit, alles Anstandes, aller Sitte und aller Persönlichkeit“ 21) zu vermeiden, soll der Siedlungsbereich zu einer „Stadtgemeinschaft aus losen Stadtteilen“ mit maximal 20.000 Einwohnern aufgegliedert, die Industrie Richtung Osten verlagert werden.
Ulm im Jahre 2000: eine aufgelockerte Stadtlandschaft. Typoskript mit Zeichnungen, 1947.
Ulm im Jahre 2000: großzügige Verkehrsachsen.
Ulm im Jahre 2000: Stadtgemeinschaft aus losen Stadtteilen. Sämtliche Abbildungen: HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai AZ 555.
Das Wunschbild einer dezentralen, geordneten, autogerechten, gegliederten und aufgelockerten Stadtlandschaft mit räumlicher Funktionentrennung entspricht dem städtebaulich dominanten Strömungen der Wiederaufbauzeit. 22 Dies impliziert großstadt- und ballungskritischen Untertöne, die sich auf Reformdiskussionen seit 1900 zurückführen lassen, aber auch in Kontinuität zur Großstadtkritik des NS-Staates stehen. 23 Aichers Beschäftigung mit dem Bauen beginnt mit dem großen Ganzen des Städtebaus und einer entschiedenen Bezugnahme zur Landschaft.
Besondere Erwartungen verbindet Aicher mit dem Bautyp des Hochhauses. Im Wettbewerbsbeitrag von 1947 wird dies in Text und Bild deutlich. „Die alte Stadt war wie eine Wiese. Die Häuser standen dicht beieinander. Die neue Stadt […] würde indes mehr einem Park gleichen mit hohen starken Bäumen.“ 24 Eine begleitende Zeichnung zeigt Hochhäuser in einer Parklandschaft. 25 1950 ist Aicher als „Mitarbeiter“ des Architekten Hans Frieder Eychmüller an einem erfolgreichen Wettbewerbsentwurf für das Deutschhausgelände in Ulm beteiligt, der allerdings nicht realisiert wird. Der bahnhofsnahe Baublock wird in dieser Planung mit einer offenen kammartigen Randbebauung gefasst. Im durchgrünten Binnenbereich sind eine Halle auf dem Grundriss eines sphärischen Dreiecks und eine neungeschossige Hotelscheibe vorgesehen. 26
Wettbewerb „Deutschhausgelände“, Beitrag von Otl Aicher und Hans Frieder Eychmüller, Ulm 1950. Archiv Südwestpresse, HfG-Archiv / Museum Ulm
Landschaft und Bodenlosigkeit
Wie sich Aicher zu dieser Zeit „das Wohnhaus [für] einen dem modernen Menschen angemessenen Lebensstil“27 denkt, illustriert ein in den ersten Nachkriegsjahren entstandener Entwurf. Die Skizzen zeigen ein zweigeschossiges Haus am Hang.28 Das auskragende Obergeschoss besitzt eine plastische Qualität, die vor der grob strukturierten Oberfläche des Sockelgeschosses optisch hervortritt.29 Die eigentliche Wohnzone liegt wie in den aufgeständerten Bauten Le Corbusiers auf einer oberen Ebene.30 Der Blick in die Landschaft ist gerichtet und gerahmt: ein „individualistisch abgeschlossenes Eigenheim“.
Haus am Hang mit Blick in die Landschaft, undatierter Entwurf. Im HfG-Archiv sind Aichers Skizzen dem Zeitraum 1945 bis 1953 zugeordnet.
Haus am Hang mit Blick in die Landschaft, undatierter Entwurf. Im HfG-Archiv sind Aichers Skizzen dem Zeitraum 1945 bis 1953 zugeordnet.
Aichers Entwurf zeigt ein „individualistisch abgeschlossenes Eigenheim“.
Die Wohnzone liegt auf einer oberen Ebene.
Obere Etage mit Wohnräumen.
Entwurfsvariante, Erschließung und Aufteilung
Grundrisse. Sämtliche Abbildungen dieser Reihen: © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 643. 1-10.
Aus derselben Zeit existiert die Skizze für einen Ausstellungspavillon, der wohl der Präsentation der städtebaulichen Überlegungen für Ulm gewidmet sein sollte.31 Aicher skizziert hier ein modulares Konstruktionssystem auf Basis eines quadratischen Rasters.
Modularität und Linienmuster
Modularität wird in den folgenden Jahrzehnten zum Grundprinzip von Aichers Entwurfsdenken. Ein modulares Raster von 3 x 3 x 3 Metern ist 1955 Grundlage für das Messe- und Ausstellungssystem, das Aicher, inzwischen Dozent an der von ihm mitbegründeten Hochschule für Gestaltung in Ulm, und der damalige HfG-Student Hans G. Conrad für den Elektrogerätehersteller Max Braun entwickeln. Aicher und Conrad minimierten das tragende Gerüst auf ein filigranes Skelett aus Vierkantrohren. Die horizontalen Stäbe verlaufen in einer Höhe von 50, 200, 250 und 300 Zentimetern und spannen ein graphisch-räumliches Linienmuster auf. Vertikale und horizontale Träger besitzen gleiche Außenabmessungen, aber unterschiedliche Materialstärken aufgrund der statischen Beanspruchung. Wandscheiben und variierend eingehängte Deckenelemente mit integrierter Beleuchtung sorgen für Raumbildung und Aussteifung. Das flexible Modulsystem, das eine schnelle, unkomplizierte Montage beziehungsweise Demontage ermöglicht und zahllose Variationen erlaubt, wird auf der Rundfunkmesse in Düsseldorf in Zusammenwirken mit dem neuartigen minimalistischen Design der Braun-Geräte ein großer Erfolg und über Jahre hinweg verwendet.
Ausstellungssystem d55 für dem Messeauftritt der Firma Braun in Düsseldorf 1955, Foto: Hans G. Conrad © René Spitz, Köln
Ausstellungssystem d55 für dem Messeauftritt der Firma Braun in Düsseldorf 1955, Foto: Hans G. Conrad © René Spitz, Köln
Ausstellungssystem d55, Detail © BRAUN P&G, Braun Archiv Kronberg
Ausstellungssystem d55, © BRAUN P&G, Braun Archiv Kronberg
© BRAUN P&G, Braun Archiv Kronberg
© BRAUN P&G, Braun Archiv Kronberg
Dieser Ansatz lässt sich auf weitere Arbeitsgebiete übertragen. Im August 1958 legt Aicher ein HfG-internes Diskussionspapier für ein „haus 62“ vor.32 Das Konzept umfasst die Entwicklung eines industriell gefertigten Bausystems, eines Regal- und Einrichtungssystems sowie aufeinander abgestimmter elektrischer Geräte für die Innenausstattung. Modulare Maße garantieren Passgenauigkeit und Variabilität. Die Ergebnisse – so die Idee von 1958 – sollen im Jahr 1962 in einer Ausstellung in Frankfurt am Main und in einer Mustersiedlung der Firma Braun (Montagewerk, Verwaltungsbauten, Werkssiedlung mit 500 Wohnungen, Ladenzentrum, Schule und Hotel) vorgeführt werden. Die Gesamtkosten für Entwicklung und Bau schätzt Aicher auf 70 Millionen DM.33 Etwa zeitgleich sondiert die Firma Braun die Möglichkeiten einer Werkssiedlung Kronberg im Taunus, zieht sich in der Folge aus dem Vorhaben, für das erste Vorarbeiten Aichers existieren, aber schrittweise zurück.34
1958 entwickelte Aicher ein Konstruktionssystem für eine Mustersiedlung der Firma Braun, inklusive Verwaltung und Fertigungsanlagen.
Aicher plante für Braun ein Montagewerk, Verwaltungsbauten, eine Werkssiedlung mit 500 Wohnungen, ein Ladenzentrum, sowie eine Schule und Hotel.
1958 entwickelte Aicher ein Konstruktionssystem für eine Mustersiedlung der Firma Braun, inklusive Verwaltung und Fertigungsanlagen.
Aicher plante für Braun ein Montagewerk, Verwaltungsbauten, eine Werkssiedlung mit 500 Wohnungen, ein Ladenzentrum, sowie eine Schule und Hotel.
Das Projekt wurde seinerzeit als „Fabrik im Grünen“ bezeichnet. Sämtliche Abbildungen dieser Reihen: © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai Ki 49, 910-952
So bleibt es zunächst bei Messe- und Ausstellungsbauten. Aicher und das Team der von ihm geleiteten HfG-„Entwicklungsgruppe 5“ entwerfen in der Folge für weitere Unternehmen modulare Systeme für Messestände und Ausstellungen, wobei die minimalistischen Details, Rastermaße und Dimensionen wechseln und jeweils zur „Eigenlogik“ der Firmenauftritte beitragen. 1959 folgen Ausstellungssysteme für den Schlaginstrumente-Hersteller Sonor35 und für den Textilhersteller Stuttgarter Gardinenfabrik,36 1962 ein Ausstellungsstand der BASF auf der Hannover Messe.37 Für die Firma Braun entwirft die Entwicklungsgruppe 5 Prototypen für modulare Ladeneinrichtungen und Schaufensterdisplays.38
Handelt es bei diesen Ausstellungsarchitekturen um Systeme für Innenräume, ist der 1959 im Außenbereich der Messe Frankfurt gebaute und der Witterung ausgesetzte Braun-Pavillon schließlich doch ein wirkliches „Haus“ mit Dach und Fundament. Aicher und HfG-Kollege Hans Gugelot adaptierten für diese Aufgabe das Messebausystem für Braun und gestalten einen sechs Meter breiten, zwölf Meter langen, aufgeständerten und maximal transparenten Baukörper. „ein dach ruht auf schmalen vierkantstützen. ringsum glas. die trennwände sind halbtransparente jalousien. weniger geht nicht mehr. fast ein nichts. alles tritt zurück zugunsten der objekte, die gezeigt werden.“39 Während die Metallelemente zuvor dunkel gefasst waren, sind sie hier weiß. Mies van der Rohes transparentes Farnsworth House von 1951 lässt sich als Vorbild denken.40 Auch die von Sep Ruf und Egon Eiermann geschaffenen Deutschen Pavillons auf der Weltausstellung in Brüssel (1958) sind eine mögliche Anregung.41
Haus mit Dach und Fundament: Braun-Pavillon, Radio-Ausstellung in Frankfurt am Main 1959. Entwurf: Otl Aicher und Hans G Conrad. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 632. 21.
Messestand für den Schlaginstrumente-Hersteller SONOR auf der Frankfurter Frühjahrsmesse 1963. Entwurf: Otl Aicher, Entwicklungsgruppe e5. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 517.
Haus mit Dach und Fundament: Braun-Pavillon, Radio-Ausstellung in Frankfurt am Main 1959. Entwurf: Otl Aicher und Hans G Conrad. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 632. 21.
Messestand für den Schlaginstrumente-Hersteller SONOR auf der Frankfurter Frühjahrsmesse 1963. Entwurf: Otl Aicher, Entwicklungsgruppe e5. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 517.
Otl Aicher gibt den Takt vor: auf dem Messestand SONOR. Foto: Christian Staub. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai F 1519 (09).
Stand für BASF auf der Industriemesse Hannover, 1962. Entwurf: Otl Aicher, Entwicklungsgruppe e5. Foto: Wolfgang Siol © HfG-Archiv / Museum Ulm, AR F-Ki4.
BASF-Stand auf der Industriemesse Hannover, 1962. Foto: Wolfgang Siol © HfG-Archiv / Museum Ulm, HfG-AR 62 / 0020.
Stand für BASF auf der Industriemesse Hannover, 1962. Entwurf: Otl Aicher, Entwicklungsgruppe e5. Foto: Wolfgang Siol © HfG-Archiv / Museum Ulm, AR F-Ki4.
BASF-Stand auf der Industriemesse Hannover, 1962. Foto: Wolfgang Siol © HfG-Archiv / Museum Ulm, HfG-AR 62 / 0020.
BASF-Stand auf der Industriemesse Hannover, 1962. Foto: Wolfgang Siol © HfG-Archiv / Museum Ulm, AR 62 / 0017.
System ist alles – alles ist System
Die Erfahrungen aus dem Messebau und die Vorüberlegungen für das Projekt „haus 62“ sind Anstoß zur Entwicklung eines umfassenderen Ansatzes: „es entstand das bedürfnis, die erfahrungen zu einem generellen system zu vereinigen.“42 Im Sommer 1960 erarbeitet Aicher den „entwurf eines mehrzweck-bausystems für ein- bis eineinhalbgeschossige bauten“.43 Anspruch ist nun, sämtliche Bauaufgaben – Wohnungen, Werkstätten, Schulen, Dienstleistungen, Fabriken usw. – durch Montage industriell vorfabrizierter Bauteile zu realisieren. Das (natürlich!) modulare System verbindet maximale Einfachheit mit größter Flexibilität. Grund für die Einschränkung auf anderthalb Geschosse sind baurechtliche Vorgaben, die den Einsatz unverkleideter Stahl- und Metallteile für mehrstöckige Gebäude nicht gestatten. „vorläufig ist es also nur möglich, für ebenerdige bauten stahl oder -aluminium als hauptsächliches baumaterial zu verwenden“.44
Die wesentlichen Bauelemente (Stütze, Träger, Wand, Dach und Boden) bestehen aus separaten Fertigbauteilen. Installationen verlaufen in der Fußbodenkonstruktion oder in der Zwischendecke. Regenwasser wird vom Flachdach durch Kunststoffrohre in den hohlen Stützen abgeleitet. Klima und Kälteschutz sind keine grundsätzliche Schwierigkeit, „wenn man dieses problem als erst in zweiter linie wichtig betrachtet“.45 Die drei Grundmodule von 3 x 3 Meter für den Wohnbau, 4 x 4 Meter für den Gewerbebau und 3 x 4 Meter als vermittelndes Modul lassen sich in alle Richtungen erweitern und ermöglichen wachsende Strukturen. „die zukunft liegt bei einem system, mit dem man so gut wie alles realisieren kann. dieses system ist aber nur denkbar mit innenliegenden stützen in großen räumen.“46
Dieser Nachteil – Stützen im Innenraum stellen ein Sicht- und Bewegungshindernis dar – wird durch deren minimierte Dimensionen ausgeglichen. Auf Basis der Erfahrungen mit dem Frankfurter Messepavillon kann, so Aicher, der Stützenquerschnitt auf 7 x 7 Zentimeter reduziert werden.
Modulare Bausysteme wurden in den Sechzigerjahren populär. Dazu trugen die Konstruktionen des Schweizer Architekten, Forschers und Möbeldesigners Fritz Haller bei, etwa die modularen Baukasten- und Installationssysteme USM Mini, Midi und Maxi © S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel.
Hallers Trägerkonstruktion im Aufbau, USM Haller Maxi. © ETH Zürich, Departement Architektur Institut gta, Nachlass Fritz Haller.
Modulare Bausysteme wurden in den Sechzigerjahren populär. Dazu trugen die Konstruktionen des Schweizer Architekten, Forschers und Möbeldesigners Fritz Haller bei, etwa die modularen Baukasten- und Installationssysteme USM Mini, Midi und Maxi © S AM Schweizerisches Architekturmuseum Basel.
Hallers Trägerkonstruktion im Aufbau, USM Haller Maxi. © ETH Zürich, Departement Architektur Institut gta, Nachlass Fritz Haller.
Hallers Haus am Hang: der Wohnsitz des Diplomingenieurs und USM-Eigners Paul Schärer. Das Gebäude wurde 1969 fertiggestellt und als „Haus Buchli“ bekannt. © ETH Zürich, Departement Architektur Institut gta, Nachlass Fritz Haller.
Modulare Bausysteme sind in den 60er Jahren ein in der Architektur weit verbreitetes Thema. Im deutschsprachigen Bereich arbeiten unter anderem Fritz Haller, Eckhard Schulze-Fielitz, Richard J. Dietrich und Wolfgang Döring an derartigen Konzepten.47 Für den Schul-, Hochschul- und Verwaltungsbau werden eigene Bausysteme entwickelt.48 Wichtige historische Referenz für modulares Bauen ist für Aicher das Vorbild des von Joseph Paxton realisierten Kristallpalastes für die Weltausstellung von 1851. „bis heute ist der kristallpalast die beste konzeption für das industrialisierte, vorfabrizierte bauen geblieben.“49 Fragen der Ästhetik betrachtet Aicher dagegen als sekundär: „eine auseinandersetzung mit fragen des stils und geschmacks erscheint vor allem dann als zeitverschwendung, wenn man der auffassung ist, daß das richtige noch immer seine ästhetische anerkennung gefunden hat.“50
Indien: Aicher entwirft zwölf Städte
Noch im November 1960 lässt sich Aicher zu einer Anpassung des beschriebenen Bausystems inspirieren. Vorangegangen war Reise nach Indien. Rasch entwickelt er einen umfassenden Entwicklungsplan für den asiatischen Subkontinent. Westliche Formen der Industrialisierung sind nach Aichers Analyse für ein Entwicklungsland mit tropischem Klima nicht geeignet. Es brauche an indische Verhältnisse angepasste Lösungen. Neben einem Bau- und Urbanisierungsprogramm entwirft Aicher Autos51 und Kleidung.52 Er diskutiert zudem, welche gesellschaftliche Kraft in Indien „eine straffe erschließungsorganisation“ darstellen könne, ohne die Prinzipien der Demokratie preiszugeben. „die antwort ist für einen staat, der sich zur gewaltlosigkeit bekennt, eigentlich naheliegend: diese organisation ist das militär, wenn man seine waffen verschrottet.“53
In zahlreichen Zeichnungen und einem Bericht hat Aicher 1960 seine indischen Impressionen festgehalten: „der indische Staat besteht erst seit 13 jahren. und schon wäre die weltgeschichte nicht mehr denkbar ohne seinen unorthodoxen einfluss.“ © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 640 o. P. („zweck des unternehmens jaipur“)
Aichers Reise war der Auftakt zu einer Zusammenarbeit zwischen zwei Gestaltungsschulen: der Ulmer HfG und des NID in Ahmedabad. Im selben Jahr entwickelte Aicher ein Konstruktionssystem für modulares Bauen in Indien. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 640 o. P.
In zahlreichen Zeichnungen und einem Bericht hat Aicher 1960 seine indischen Impressionen festgehalten: „der indische Staat besteht erst seit 13 jahren. und schon wäre die weltgeschichte nicht mehr denkbar ohne seinen unorthodoxen einfluss.“ © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 640 o. P. („zweck des unternehmens jaipur“)
Aichers Reise war der Auftakt zu einer Zusammenarbeit zwischen zwei Gestaltungsschulen: der Ulmer HfG und des NID in Ahmedabad. Im selben Jahr entwickelte Aicher ein Konstruktionssystem für modulares Bauen in Indien. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 640 o. P.
Die horizontalen Elemente seiner indischen Bauten sollten als hölzerne Wangen ausgeführt werden, für die Dächer hatte Aicher eine luftige Konstruktion mit Zeltplanen vorgesehen. © HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P 640 o. P.
In einem fiktiven Szenario entwirft Aicher für die Wüste bei Jaipur den Bau von zwölf neuen Städten mit (wie in Ulm 15 Jahre zuvor) je 20.000 Einwohnern. Morphologisch erinnern die skizzierten Lösungen an amerikanische Vorstädte: durchgrünte Nachbarschaften in aufgelockerter Bauweise; die Erschließung erfolgt über das Auto.
Für den Hausbau empfiehlt Aicher ein modulares System aus vorgefertigten Elementen, das in den Grundprinzipien dem früheren „mehrzweck-bausystem“ entspricht. Basis ist eine von Stahlstützen gebildete Raumzelle von 3 x 3 Metern. Als Zugeständnis an Klima und Entwicklungstand können horizontale Konstruktionsteile als hölzerne Wangen ausgeführt werden. „das dach des hauses ist beschattet von einer zeltplane. zwischen dach und zeltplane ist offener luftraum.“54
Postmodernekritik: Welt versus Leben
Aichers umfassende Konzeptionen für modulare Bausysteme bleiben freilich unverwirklicht. Allerdings können die nach 1972 entstandenen Atelierbauten in Rotis als Fortführung und Konkretisierung der zugrundeliegenden Gedanken angesprochen werden.55 Wie Aichers Bausystem für Indien besitzen sie in Holzbauweise und Dachlandschaft eine regionale Note.56
Fünfzehn Jahre nach seiner Indien-Reise, zwischen 1975 und 1977, entwirft Aicher das Erscheinungsbild ZG Raiffeisen-Gruppe und macht schließlich nochmals Vorschläge für standardisierte Konstruktionen.57 Er entwickelt ein Bausystem für Lagerhöfe der Zentralgenossenschaft, deren kräftig dimensionierte, leuchtend grüne Fachwerkträger starken Wiedererkennungswert besitzen. Der zeichenhafte Gebrauch dieses Konstruktionselements knüpft an frühere modulare Systeme an und erinnert zugleich an formale Gestaltungsmomente der Postmoderne.
In den Jahren 1975 bis 1978 entwickelte Aicher das Erscheinungsbild für die Raiffeisen-Gruppe (ZG). Zugleich zeichnete er Pläne für neue Bauten der landwirtschaftlichen Genossenschaft. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439. 8/9.
In den Jahren 1975 bis 1978 entwickelte Aicher das Erscheinungsbild für die Raiffeisen-Gruppe (ZG). Zugleich zeichnete er Pläne für neue Bauten der landwirtschaftlichen Genossenschaft. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439. 8/9.
Aicher entwarf Pläne für Lagerhöfe der Zentralgenossenschaft. Signifikant ist die groß dimensionierte, leuchtend grüne Fachwerktragkonstruktion. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439. 8/9.
Aicher erläuterte in Stichworten seine Pläne: „architektur, baukastenprinzip, standardisierte konstruktionen, maßmodul.“ © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439 24.
Aicher erläuterte in Stichworten seine Pläne: „architektur, baukastenprinzip, standardisierte konstruktionen, maßmodul.“ © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439 24.
Idealtypischer Lagerhof für die Raiffeisen-Gruppe, Fotocollage © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 439
Dies ist erstaunlich, profiliert sich Aicher im Architekturdiskurs der 1980er Jahre doch als scharfer Kritiker dieser Richtung, die er als krisenhaften Rückschritt anspricht. Aicher beharrt auf dem „Projekt der Moderne“: der Veränderung der Welt durch die (humanisierte) Technik.58 „die krise der moderne liegt darin, daß man an die stelle des denkens und der kriterien des machens eine ästhetische vision setzt.“59 In seinem Buch „die welt als entwurf“ schreibt er: „ich sehe bei den sogenannten postmodernen architekten dieselbe flucht in den historisierenden stil, in die stil-ästhetik, in die formkomposition, in das symbol, in den ästhetischen mythos. vergessen ist der ansatz dieses jahrhunderts, die technik mit dem menschen zu versöhnen, die technik zu humanisieren, indem man sich ihr öffnet.“60
Aicher polarisiert. Seine Postmodernekritik ist wie 1946 Polemik „gegen den Architektengeist“.61 Das positive Gegenmodell zur Ästhetik der Postmoderne sind aus seiner Perspektive eine „dritte Moderne“, die keine Monumente kennt, „weil sie sachlich sein will“,62 sowie die Technik als „materialisierte intelligenz mit dem ziel, die beste lösung mit einer minimierung des aufwands zu erreichen.“63 Auffällig ist das Pathos der Sachlichkeit, das an Passagen aus den „innenseiten des kriegs“ erinnert. „wir brauchen mehr vernunft denn je. das leben als genuß, als eigenerlebnis der postmodernen rationalität klammert die welt aus, die welt wie sie ist, und zieht sich in ästhetische strukturen zurück, in die illusion, in die vorstellung. aber man ist noch aus jedem traum aufgewacht.“64
Ausblicke nach Innen
Diese „Ordnungsrufe“ sind begleitet von privaten Überlegungen und Skizzen zum Bauen. Neben den eingangs vorgestellten Stelzenhäusern sind weitere späte Gedankenspiele erhalten, zwei imaginäre Projekte. Eine Reihe von undatierten Zeichnungen und ein Text „gegen die ärmlichkeit der architektur“ erkunden die gestalterischen Möglichkeiten für ein städtisches Reihenhaus in einer Baulücke, 10 Meter breit, 20 Meter tief.“65 Der städtebauliche Kontext spielt keine Rolle. Der Entwurf beruht auf einem modularen Raster: zwei Felder breit, vier Felder tief, drei Felder hoch. Durch Auslassungen entsteht eine räumlich interessante Figur, ein Haus, das „auf eine landschaft von terassen, eine art inneren weinberg bezogen ist.“66 Die zur Gartenseite gerichtete Front ist vollständig verglast, von der angrenzenden Parzelle allerdings durch eine Mauer getrennt. Das Haus „soll ein gesamtkosmos sein, so gut, daß man darin ein volles leben führen könnte ohne es zu verlassen.“67 – Ein Haus, das die Außenwelt nicht mehr braucht.
Ein abgeschlossener Kosmos: städtisches Reihenhaus in einer Baulücke; Zeichnung undatiert, vermutlich Achtzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.569.1 „stadthaus”.
Ein abgeschlossener Kosmos: städtisches Reihenhaus in einer Baulücke; Zeichnung undatiert, vermutlich Achtzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.569.1 „stadthaus”.
Zehn Meter breit, zwanzig Meter tief; die Belichtung des Reihenhauses sollte über eine großzügige Glasfassade sowie Sheddächer erfolgen. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P.569.11
Die Haus-Entwürfe gegen Ende seines Lebens stehen für eine Art Rückzug. 1989, zwei Jahre vor seinem Tod, skizziert Aicher einen Gebäudekomplex in einer freien Landschaft:68 „wenn ich’s einrichten könnte … so müsste mein haus heute aussehen. […] ein haus ist ein behälter, in dem das ganze leben stattfindet. […]. es hat keine fenster nach außen, ist nach innen umgestülpt. innen habe ich kraft. innen kann ich viel tun. deshalb ist das haus eine fabrik. eine fabrik zum denken. eine fabrik zum zeichnen. eine fabrik zum schreiben.“69 Aichers Architektur der Modularität mündet in kontextloser Abstraktion ohne sinnliche Qualität – in einen Rückzugsort des „Denkens“ als Form ungegenständlicher Betrachtung.70 „ich möchte in einem gefängnis wohnen, abgesperrt von der welt. nur da drinnen ist freiheit, würde, intellektuelle arbeit.“71
Zwei Jahre vor seinem Tod skizziert Aicher einen Gebäudekomplex in einer freien Landschaft. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 627 „haus 1989“.
Zwei Jahre vor seinem Tod skizziert Aicher einen Gebäudekomplex in einer freien Landschaft. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 627 „haus 1989“.
Eine Fabrik zum Denken, ein Kloster für den Rückzug: „ich möchte in einem gefängnis wohnen“, notierte Aicher, „abgesperrt von der welt. nur da drinnen ist freiheit …“ © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai P. 627. 1 + 2, „haus 1989“.
Karl R. Kegler ist Architekt und Historiker, Professor für Geschichte und Theorie der Stadt sowie der Architektur an der Hochschule München (HM). Zuvor war er Mitherausgeber der „Aachener Studien für Technik und Gesellschaft“, Postdoc und Senior Assistant am Lehrstuhl Architekturtheorie bei Ákos Moravánszky am Institut gta der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH). Kegler ist Mitherausgeber der dreibändigen Dokumentation „East West Central. Re-Building Europe“, zudem Gründungsredakteur der Online-Zeitschrift „archimaera“. Er promovierte mit einer Arbeit zur Geschichte der Deutschen Raumplanung zwischen NS-Staat und Bundesrepublik. Darüber hinaus hat Karl R. Kegler als Autor und Herausgeber zahlreiche Publikationen zur Geschichte und Kritik der Architektur, Technik und Gesellschaft veröffentlicht; darunter Studien zum Werk von Rudolf Schwarz und Bruno Taut sowie das Buch „Entfesselte Kräfte. Technikkatastrophen und ihre Vermittlung“ (mit Rudolf Drux).
Isny im Allgäu owes Otl Aicher a corporate design that is concise, bold and singular.
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Interviewed: Jürgen Werner Braun on his collaboration with Otl Aicher.