Was ist aus Otl Aichers einstigem Domizil geworden? Ein Ortsbesuch im Allgäu.
Design als Mannschaftssport
Otl Aichers Team XI: Grafiker, Zeichner und Techniker aus der ganzen Welt entwarfen das Erscheinungsbild von Olympia 1972 in München
Von 1965 bis 1972 entwarf Aicher mit einem großen Team das visuelle Erscheinungsbild der XX. Olympischen Spiele in München. Insgesamt 82 Grafiker, Zeichner und Techniker arbeiteten im Lauf dieses Mega-Projektes am Corporate Design des Sportereignisses. Ihr Plan: Olympia-Gastgeber Deutschland sollte sich als geläuterte, sozialliberale und postnationale Republik präsentieren – in heiteren Farben und demokratischen Formen.
Die Geschichte des Designs der Olympischen Spiele 1972 beginnt mit einer eher unspektakulären Wiederbegegnung von Otl Aicher und Tomas Nittner Mitte der Sechzigerjahre. Nittner, gebürtiger Tscheche, war ein ehemaliger Student der Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG), hatte von 1961 bis 1964 bei Aicher studiert. Nach seinem Ausscheiden aus der HfG eröffnete er ein kleines Konstruktionsbüro in München und wurde Ende 1965, im Alter von 23 Jahren, von Aicher, der damals Anfang 40 war, im Hinblick auf eine gemeinsame Zusammenarbeit bei den Münchner Spielen angesprochen.
Da Aicher sein Büro weiterhin in Ulm führte und Nittner immer noch in München saß, trafen sie sich an den Wochenenden im „Roten Hof“, Aichers Rückzugsort im Wald bei Kissleg, etwa 60 Kilometer westlich von München. Sie verbrachten ihre Zeit damit, wie Nittner sich erinnert, „Ideen zu träumen“. Aicher wollte sich für ein Treffen mit dem Präsidenten des Olympischen Organisationskomitees Willi Daume vorbereiten – ein Treffen, das schließlich um das Frühjahr 1966 an der HfG Ulm stattfinden sollte. Das war etwa einen Monat bevor München die Spiele vergeben würde. Florian Aicher, Sohn von Otl Aicher, erinnert sich: „Der Rote Hof war seit Anfang der sechziger Jahre das Sommerhaus unserer Familie. Freunde der Familie, Kollegen, Mitarbeiter des Büros meines Vaters etc. waren dort oft zu Gast. Die Treffen dort waren familiär, es wurde gespielt, gelacht, Wein getrunken … manchmal war der Rote Hof der Rückzugsort meines Vaters, um ganz allein zu sein.“
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese
Die Wochenendtreffen der „Truppe“, wie Nittner die Mitarbeiterschar nannte, waren informelle Treffen. Mittlerweile waren ein paar Mitarbeiter aus Aichers Büro dazugestoßen, darunter Alfred Kern. „Aicher hat stets versucht, der primus inter pares zu sein, ein Erster unter Gleichen, und nicht der Grand Boss“, erinnert sich Nittner. Am 7. Oktober 1966 wurde Aicher offiziell zum Beauftragten für visuelle Gestaltung der Spiele ernannt. Und Anfang 1967 bat Aicher seinen Mitarbeiter Nittner, ein Studio in München zu suchen.
Nittner fand ein geeignetes Büro im zweiten Stock eines neuen Industriegebäudes in Garching-Hochbrück, nur zwölf Kilometer nördlich von München. Es war ein offener, großer Raum, den Aicher und Nittner mit weiß gestrichenen Holzplatten unterteilten. Aicher entwarf Schreibtische, die aus einem unbehandelten Stahlrahmen und einer Hartfaserplatte bestanden. Anfang April 1967 zogen sie ein. Dokumente im Ulmer Archiv zeigen, dass Aichers Team von April bis Juni dieses ersten Jahres insgesamt acht Personen umfasste, darunter Aicher selbst: die Designer Thomas Nittner, Alfred Kern und Rolf Müller sowie die Technischen Zeichner András Dózsa-Farkas, Wolfgang Hirschfeld, Gerhard Joksch und die Sekretärin Susanne Osterried.
Im Juli 1968 wurde Aichers Team in Garching als Abt. XI in das Organisationskomitee integriert. Neun Monate später, im April 1969, nach zweijährigem Aufenthalt, wurde das Team in das fußläufig erreichbare Büro des Organisationskomitees in der Saarstraße 7 verlegt, wo sie bis Februar 1972 blieben und schließlich in einem Raum innerhalb der OK-Büros im Olympischen Dorf ihren Platz fanden. Dort blieben sie während der gesamten Spiele und einige Zeit darüber hinaus. Mit dem Umzug in die Saarstraße verloren Aicher und seine Mitarbeiter ihre selbstempfundene Autonomie. Sie arbeiteten nun innerhalb der Geschäftsstelle des Komitees und waren der täglichen Kontrolle ausgesetzt.
Aichers Team wuchs. Es hatte schließlich acht Projektleiter, denen jeweils ein eigener Verantwortungsbereich zugewiesen wurde. Rolf Müller, Stellvertreter von Aicher, war für Werbung und Veröffentlichungen verantwortlich, Gerhard Joksch für Sportpiktogramme und Plakate, Alfred Kern für Informationsdesign, Informationspiktogramme und Beschilderung, Ian McLaren für die Gestaltung des Kulturprogramms, Hans Roericht für 3D und Olympische Dorfeinrichtungen, Elena Winschermann für das Maskottchen der Spiele. Vera Simmert kümmerte sich um die Bekleidung aller offiziellen Mitarbeiter in und um die Sportstätten, Eberhard Stauss um die Planung der Stadtdekoration. Neben den acht koordinierte Holger Franke die Arbeit des Teams der Abt. XI in Kiel, dem Ort der Yachting-Veranstaltungen. Und Karsten de Riese war als selbstständiger Fotograf der Leiter der Bildabteilung.
Aicher hat stets versucht, der primus inter pares zu sein, ein Erster unter Gleichen, und nicht der Grand Boss.
Die Abteilung XI umfasste mehrere Fachbereiche – Design, Fotografie, technische Darstellung und Illustration, Grafik. Es gab Fotolaborassistenten, einen Studioleiter und Sekretariatsmitarbeiter. Das Team arbeitete mit anderen Teams zusammen, die auf den ersten Blick Teil der Abteilung XI zu sein schienen, es aber technisch gesehen nicht waren. Zudem arbeiten Hans (Nick) Roericht und Kollegen unter dem Namen „Arbeitsgruppe Ausstattung“ an verschiedenen Stadion- und Ausstattungsprojekten. Obwohl sich Roerichts Team die Schreibtische mit Abt. XI teilte, unterhielt er während der gesamten Spiele sein eigenes kommerzielles Studio und verbrachte lediglich zwei Tage pro Woche in München.
Hinzu kam die Augsburger Agentur Ay und Breuer (Hermann Ay und Josef Breuer), die ihre Autonomie behielt. Die Agenturpartner waren ehemalige Studenten der HfG Ulm und produzierten viele, wenn nicht alle, Werbe-Kommunikationen, Werbeprospekte und dergleichen, einschließlich einiger Literatur für die Augsburger Slalom-Kanu-Veranstaltungen.
Die Abteilung XI, einschließlich der Teams von Schwaiger und Roericht und aller unabhängig Beauftragten, umfasste im Laufe des Projekts insgesamt 82 Personen. Dazu gehören Designer, Gestalter in gestalterischen Nebenrollen, Technisches Personal, Studioleiter Friedhelm Brebeck und etwa sechs Sekretariatsmitarbeiter sowie Personen, die in Kiel und Augsburg tätig waren.
Das Team der Abt. XI war international aufgestellt und relativ jung. Neben deutschen waren auch algerische, britische, tschechoslowakische, niederländische, französische, ungarische, italienische und Schweizer Staatsangehörige dabei. 1970, zu Beginn der Hochphase des Projektes, war Rolf Müller 30 Jahre alt geworden, die Teamchefs waren sämtlich in einem Alter um die Dreißig. Zu den älteren Teammitgliedern zählten Walter Schwaiger (34), Friedhelm Brebeck (36) und Hans Roericht (38). Dagegen waren Vera Simmert (25) und Elena Winschermann (21) deutlich jünger als die anderen.
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese
Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese
Aicher wandte sich zwar an ehemalige Mitarbeiter der HfG, um Designer zu engagieren, aber die Zahl der Ulmer, mit denen er zusammengearbeitet hat, ist vielleicht nicht so hoch, wie manchmal angenommen wird. Von denjenigen in kreativer Funktion, die von 1965 bis 1973 in den verschiedenen Erscheinungsformen des Olympia-Teams beschäftigt waren, kamen nur zwölf von der HfG Ulm, darunter der Fotograf Karsten de Riese. Lediglich sieben ehemalige Ulmer Studenten arbeiteten in demselben Zeitraum Vollzeit in den Büros der Abt. XI in München.
Eine aufschlussreiche Bilanz der in München ansässigen Mitglieder der Abt. XI im Jahr 1970 liefert das von Aicher/Kern entworfene, schwarz-weiße Teamposter. Die fotografischen Porträts der hauseigenen Fotografin Gabrielle Pée werden von einer Liste mit 25 Namen begleitet, von denen viele erst in den Jahren 1968/69 dazugekommen sind. Interessanterweise fehlen Walter Schwaiger und die anderen Münchner Produktionsmitarbeiter (Abt. I(P). Vermutlich deshalb, weil Aicher sich weigerte, sie als Teil der Abt. XI anzuerkennen. Friedhelm Brebeck ist vielleicht eine überraschendere Auslassung. Möglicherweise wurde er als Studiomanager nicht zu den Kreativen gezählt. Ausgenommen sind auch Kieler Mitarbeiter. Seit der Entstehung des Plakats bis Ende 1970 unterstützten drei weitere Mitarbeiter der Abt. XI bei der Gestaltung der Sportplakate: Henri Wirthner, György Nagy und Fotolaborantin Nanke Claassen. Ian McLaren, Gerhard Ade und Herbert Berger sowie die Produktionsrekruten Sepp Klement und Heinrich op ten Noort traten dem Team erst 1971 bei. Nach den Spielen in München wechselte ein Teil des Teams in Aichers Studio nach Rotis. Dort arbeiteten zunächst Barbara Adam, Andreas Fahrni, Petra Kahlenberg, Alfred Kern, Hans Roericht und Elena Winschermann.
Mark Holt ist Designer und Autor. Er war Co-Gründer von 8vo design studio in London sowie der Zeitschrift Octavo typography journal. 2020 gab er das 536 Seiten umfassende Buch „München ’72. The Visual Output of Otl Aicher’s Dept. XI” heraus. Es kann bestellt werden unter: markholtdesign.com.
Anmerkungen
Zur Erinnerung finden sich hier die Namen jener 82 bekannten Personen, die Otl Aicher während eines Teils oder des gesamten Olympia-Projektes unterstützt haben: Barbara Ada, Gerhard Ade; Hermann Ay, Herr Bartscht, Herbert Berger; Peter Bock-Schroeder, , Margarete Bodarwé, Helene Brandl, Friedhelm Brebeck,; Bernd R Brenner, Josef Breuer, Gertraud Bühler, Michael Burke, Jennifer Cecil, Nanke Claassen, Uwe Curs, Karsten de Riese; András Dózsa-Farkas, Eugen Eckert, Kriemhilde Eggl, Andreas Fahrni, Horst Fleischmann, Holger Franke, Regula Fumasoli, Merve Giehl, Peter Gottschalk, Dieter Gromann, Karl Gwosdz, Inge Halbauer, Alan Hayward, Barbara Heimerl, Ralph Hinderer, Wolfgang Hirschfeld, Jürgen Hoffmann, Georg Hornberger; Heiner Jacob, Gerhard Joksch, Petra Kahlenberg, Frau Karrer, Alfred;Kern, Sepp Klement, Sylvie Laumans, Heinz Lichtenberg, Erik Liebermann, Ian McLaren, Petter Trond Moshus, Rolf Müller, György Nagy, Tomas Nittner, Heinrich op ten Noort, Ingo Osterkamp, Susanne Osterried, Gabriele Pée, Anne Preiss, Holger Reichelt, Hermann Riegler, Hans (Nick) Roericht, Jörg Sandmann, Josef Schauer, Thomas Schillbach, Sigrid Schüler, Walter Schwaiger, Barbara Sckeyde, Renate Sedlacek, Vera Simmert, Paul Simon, Herbert Singer, Christine Sopar, Eberhard Stauss, Holger Stock, Martin Strohkendl, Heinrich Walderdorff, Thomas Wasmer, Udo Welter, Birgitt Willikens, Elena Winschermann, Josef Winter, Henri Wirthner, Frau Woelk, Heinz Wondra, Marga Wördehoff, Frau B. Zinsinger.
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