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„Die Rotis musste verwendet werden”

Im Gespräch: Design-Ikone Stefan Sagmeister über Schriften, Schönheit und das Vermächtnis von Otl Aicher

Foto: Gerhard Berger

Er zählt zu den international bekanntesten Grafikdesignern: Stefan Sagmeister, gebürtiger Österreicher, lebt seit beinahe 30 Jahren in New York. Berühmt gemacht haben ihn Entwürfe für Albumcover der Rolling Stones und Lou Reed, Vorträge, Ausstellungen sowie sein „Happy Film“. Auf den ersten Blick scheint Sagmeister wenig mit Otl Aicher zu verbinden – doch gerade deshalb hat uns interessiert, wie er den prägenden deutschen Gestalter sieht. Seine Antworten überraschen.

Die Unterschiede zwischen deinen Arbeiten und dem Werk von Otl Aicher sind zahlreich und liegen auf der Hand: Du bringst dich wie kaum ein anderer Designer in deine Entwürfe ein. Sie sind oft persönlich, spielerisch, experimentell. Aicher wiederum stand für eine Gestaltung der Klarheit und Konsequenz – bei der er sich aber als Person zurücknahm. Gerade wegen dieser Gegensätzlichkeit bin ich gespannt auf unser Gespräch. Wann gab es für dich die erste Berührung mit Aichers Werk?

Ich bin 1993 auf Otl Aicher gestoßen, kurz nachdem wir unser Studio in New York aufgemacht hatten. Einer unserer ersten Kunden war ein japanischer Badhersteller, für den wir eine amerikanische Identity machen sollten. Im Team des Badherstellers war ein Manager aus Deutschland, der großer Otl-Aicher-Fan war. Da hab‘ ich mir das „typographie”-Buch von Aicher besorgt, weil er mich sehr interessierte. Es war auch klar, vom Kunden her, dass die Rotis für die Identity verwendet werden musste. Die Vorgabe war für mich kein Problem und das ganze Erscheinungsbild war am Ende gelungen: klar, streng, im Raster. Aichers Thesen zur Typografie fand ich gut – was mich an seinem Buch aber störte, waren das große Format und das schwere Gewicht. Es war ja zum Lesen gedacht, mit wahnsinnig viel Text. Aber wer will denn schon an einem Schreibtisch sitzen und Bücher lesen? Dass so ein fundamentaler Funktionsfehler einem Designer unterläuft, bei dem die Funktion ja so sehr im Vordergrund steht – das hat mich sehr gewundert.

Wie denkst du über Aicher als Person und Gestalter?

Da habe ich sehr gute Gefühle ihm gegenüber, weil mich ein Film beeindruckt hat, der ihn bei der Entwurfsarbeit für das Erscheinungsbild der Münchener Olympiade zeigt. Da erzählt er sehr locker und frei vor der Kamera. Ich habe den Eindruck, dass unsere Ziele als Gestalter in gewisser Weise verwandt sind – nicht die Wege zum Ziel natürlich. Aber am Ende kommt es doch nicht darauf an, ob ich einen Weg des Minimalismus beschreite oder einen Weg des Eklektizismus, sondern ob ich mit viel Liebe und Sorgfalt an die Sache herangehe. Vor seinem Tod habe ich einige gute Diskussionen mit Massimo Vignelli gehabt – Vignelli und Otl Aicher wären sich von den Gestaltungsansätzen sehr viel näher gewesen – und bei Vignelli, der ja stark von der Schweizer Grafik beeinflusst war, hat man trotz starker Reduktion immer einen gewissen Twist, einen Witz gespürt, der seinen Umgang mit Typografie, Farben und Flächen besonders machte. Ich bin mir nicht sicher, ob an der HfG Ulm viele Dozenten Aichers Haltung hatten – seinen Humor, seinen Charme. Mein Eindruck ist, dass die Ulmer Hochschule ziemlich dogmatisch in der Lehre war, nach dem Motto: „so und sonst nicht”. Und dass manche Designer, die von der HfG beeinflusst waren oder mit ihr in Verbindung standen, diese Haltung bis heute besitzen.

Wer etwa?

Dieter Rams zum Beispiel. In dem Film über ihn von Gary Hustwit gibt es eine Szene, wo sich Rams im Vitra Schaudepot über vieles lustig macht. Und die Sachen, die er kritisiert, finde ich persönlich weitaus besser als alle Möbelentwürfe von ihm. Das finde ich schade – wenn man einfach nichts anderes als seine eigene Sicht gelten lassen kann. Das ist eine Scheuklappen-Haltung, die nicht mehr zeitgemäß ist. Ich mag ganz anders arbeiten, aber wenn ich mir die Arbeiten von Aicher für München 1972 anschaue – die sind super! Ich habe sogar vor kurzem ein Olympiaplakat aus der Kunstserie ersteigert: den riesigen Fuß von Tom Wesselmann. Aicher hat für diese Serie den Künstlerinnen und Künstlern großen Freiraum für ihre Entwürfe gegeben; gleichzeitig fügt sich die Serie ein in das von ihm entwickelte Erscheinungsbild, das den Absender mit den olympischen Ringen und dem Logo der Münchener Spiele, zusammen mit der Univers, klar vermittelt. Aber im Ganzen wirkt der Fuß von Wesselmann so stark, weil er im Dialog steht mit dem Corporate Design Aichers. Und auch das Maskottchen, der Dackel Waldi, war sehr charmant. Es gibt nur wenige Beispiele für gelungene Maskottchen für Olympische Spiele.

Bei einem solchen Riesenprojekt reden ja oft viele Entscheidungsträger mit – was das Design nicht selten verwässert …

Das stimmt. Wir haben mal ein Logo für die Olympia-Bewerbung der Stadt New York gemacht – und den Wettbewerb sogar gewonnen. Dann hat man uns das Logo weggenommen und eine andere Agentur wurde dazu gezwungen, unseren Entwurf nachzuahmen. Eine für alle Beteiligten unmögliche Situation. Mir war es sogar egal, weil ich unser Logo gar nicht gut fand! (lacht) Aber das Letzte, was ich wollte, war: einen Riesenjob zu machen, der nicht gut ist. Das Briefing war so eng, dass eigentlich nur unser Entwurf funktioniert hat – und ich war damals noch zu jung und unerfahren, um das Briefing nicht zu akzeptieren, um es freier zu interpretieren. Später hätte ich in der Zeit, in der wir viele Identities entworfen haben, unglaublich gerne auch größere Projekte übernommen. Etwa American Airlines – von der Größe her also analog zu Aichers Arbeit für die Lufthansa. Aber zu dieser Zeit, von Mitte der 1990er Jahre bis etwa 2010, haben große Unternehmen solche Jobs nur an große Branding-Agenturen vergeben – die dann oft ziemlichen Mist gemacht haben. Da hatten es Otl Aicher, Saul Bass oder Paul Rand in den Jahrzehnten davor einfacher, weil sie als Einzelpersonen oder mit kleinen Teams Riesen-Identities umsetzen konnten. Und wenn man sich die Logos von echten Global Playern ansieht – Coca-Cola, Nike oder Google – die wurden alle von Einzelpersonen gestaltet. Ich glaube kleine Studios sind viel besser darin, einen Brand zu fokussieren als ein großes, internationales Konglomerat. Die Erscheinungsbilder, die in den letzten Jahren von großen Agenturen kamen und gut wurden – da hat man die Projektverantwortlichkeit auf eine Person übertragen. Und die Entwürfe wurden eben nicht in riesige Teams hineingetragen, wo oft alles kaputt gemacht wird. Ich glaube aber, mittlerweile haben auch große Firmen verstanden, dass sie von kleinen oder mittleren Studios besser beraten werden als von internationalen Branding Agencies. Ein guter Kunde zu sein ist schwer!

Foto: Sagmeister Inc

Otl Aichers kleines Studio in Rotis ist ja für deine These noch immer ein gutes Beispiel. Er hatte die Position, selbst Geschäftsführer nach Hause zu schicken und sie erst einmal ihre Hausaufgaben machen zu lassen: Sie sollten über ihr Unternehmen nachdenken, wofür es steht, was es ausmacht, wohin es sich entwickeln soll. Erst wenn diese Dinge den Unternehmern selbst klar waren, hat Aicher begonnen, sie intensiver zu beraten und für sie zu gestalten. Und er ließ sie meist nach Rotis kommen – was ja schon sehr abgelegen ist. Rotis als Studio-Sitz ist der krasse Gegensatz zu deinem Arbeitsort mitten in New York. Brauchst du nicht auch manchmal die Abgeschiedenheit und Ruhe, um arbeiten zu können?

Ich brauche das auch und mache das ja auch mit meinen Sabbaticals, in denen ich ein Jahr lang keine Aufträge annehme und experimentiere – fernab von New York. Ich habe ja leider Otl Aicher nicht kennengelernt, aber ich bin mir sicher, dass er diesen Ort bewusst gewählt hat, weil in der Abgeschiedenheit im Allgäu auch manches vielleicht einfacher ist. Man wird nicht abgelenkt und kann sich ganz auf die Entwurfsarbeit konzentrieren. Ich kenne natürlich ähnliche Orte in meiner Heimat, in Vorarlberg. Da gibt es auch heute noch kleine Designbüros in winzigen Orten, die sehr schöne Arbeiten machen. Ich will das jetzt aber auch nicht romantisieren. Ich kenne diese Büros nicht genauer. Es könnte sein, dass es dort auch Stress gibt und Tag und Nacht gearbeitet wird. (lacht)

„Wenn ich mir die Arbeiten von Aicher für die Spiele in München 1972 anschaue – die sind super! Ich habe sogar vor kurzem ein Olympiaplakat ersteigert.“

Was Aicher und dich grundsätzlich verbindet, ist das Streben nach autarkem, selbstbestimmtem Arbeiten in einem kleinen Team.

Das ist ganz eindeutig so und vor allem – doppelt unterstrichen: in einem kleinen Team. Ich arbeite am liebsten mit fünf Personen und weniger. Ich stelle für jedes Projekt ein eigenes kleines Team zusammen, das sind ab und zu wirklich nur zwei – und eigentlich nie ich alleine. In einem kleinen Team ist jeder verantwortlich und weiß, was sie oder er machen muss – und es gibt viel weniger der menschlichen Probleme, die es in großen Teams gibt.

Foto: Sagmeister Inc

Wo ich auch eine gewisse Gemeinsamkeit sehe zwischen Aicher und dir ist das Reflektieren der eigenen Arbeit, das Stellungbeziehen zu sozialen Themen. Einige von Aichers Büchern, die sich nicht explizit mit Design befassen, zum Beispiel „gehen in der wüste” oder „kritik am auto”, greifen auf sehr persönliche Weise politische Fragen auf und stellen die Gestaltung der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Wer dich wiederum stark geprägt hat, ist Tibor Kalman – der ja mit dem Colors Magazine heikle Themen wie Genmanipulation, Aids, sinnlosen Konsum oder Umweltverschmutzung aufgegriffen hat.

Ich mag es einfach, wenn ich merke, dass sich jemand mit Saft und Kraft und Elan einbringt und – wenn man so talentiert wie Otl Aicher ist – alles daran setzt, etwas so gut wie möglich zu machen. Denn das spürt man im Design, in der Architektur, in der Kunst oder in der Musik. Auch bei uns im Studio spielt die Funktionalität eine große Rolle. Mir liegt sehr am Herzen, dass unsere Dinge das machen, wozu sie da sind. Beim „Happy Film” war es mir wichtig, dass wir einen Film machen, der wirklich anschaubar ist, über 90 Minuten trägt und nicht langweilig wird. Bei den Ausstellungen ist es genauso: Mir ist es wichtig, dass die Leute mitgenommen werden. Dass sie mir folgen können. Daher habe ich auch wochenlang an den Texten gearbeitet, damit sie genau das transportieren, was notwendig ist; in der kürzesten und klarsten Form. Beim Entwurf einer Grafik ist es ähnlich – selbst wenn sie auf den ersten Blick kompliziert wirken mag, geht es mir um die Klarheit des Ausdrucks. Bei meinen Vorträgen erlebe ich manchmal Studenten, die denken, wir machen was wir wollen – egal, was da am Schluss bei herauskommt. Hauptsache es wirkt cool. Das ist natürlich überhaupt nicht so.

Foto: Sagmeister Inc

Dieser funktionale Aspekt deiner Arbeiten ist vielen sicher nicht klar.

Ja, und wir investieren viel Zeit, diese Funktionalität herzustellen. Auf der anderen Seite bin ich fest davon überzeugt, dass ein reiner Funktionalismus, der allein auf die Funktion bedacht ist, nicht zu guten Arbeiten führt. Solche Entwürfe funktionieren oft nicht, weil sie zu langweilig sind, zu kalt, abstoßend oder unmenschlich wirken. Das sieht man in der Architektur mit den Plattenbauten der sechziger und siebziger Jahre, im Grafikdesign mit dem International Corporate Style der achtziger Jahre. Max Bill hat schon in den fünfziger Jahren in einem Vortrag dafür plädiert, die Funktion und die Schönheit gleich wichtig zu nehmen; sie auf die gleiche Ebene zu heben, damit gute Arbeiten entstehen. Weil die Schönheit selbst eine Funktion ist. Ich glaube, das wurde in Ulm zeitweise wieder vergessen.

Aber das Prinzip der Einfachheit, dafür gibt es zahlreiche Beispiele, kann durchaus zu etwas Schönem führen.

Absolut! Schau, hier in meinem Büro hängt diese wunderbare Grafik von Ellsworth Kelly. Einfacher geht’s nicht! Dagegen ist selbst ein Otl Aicher noch komplex. (lacht) Und hier auf der anderen Seite des Raums hängt ein Tadanori Yokoo – der kompositorisch aber komplizierter ist. Beide Arbeiten besitzen für mich große Schönheit. Und um noch einmal auf Max Bill zurückzukommen: Bei ihm erkenne ich ein Ziel, etwas Schönes zu gestalten – man denke nur an seine Uhren für Junghans. Und ich glaube in Ulm gab es Leute, die dachten, wenn sie die optimale Funktion erreichen, dann wird es automatisch schön. Das wäre ein falsch verstandenes „form follows function“. Ich glaube, das ist nicht so. Es braucht auch die klare Zielsetzung, Schönheit zu schaffen. Viele Designer haben sich lange von dem Begriff der Schönheit distanziert und allein als „Problemlöser” verstanden. Die Schöpfer der Moderne, Künstler und Designer, waren dagegen sehr Form-affin. Wenn man an die Bauhäusler denkt, an Loos, an Protagonisten der amerikanischen Moderne – ihnen waren die Form, die Farben, die Komposition, die Ausgewogenheit unglaublich wichtig. Sämtliche ästhetischen Elemente, die zu etwas Schönem führen, spielten eine große Rolle. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurden vielfach die Prinzipien des Modernismus als ökonomischer Funktionalismus missverstanden. Da kamen dann die ganzen Fehler und Probleme zum Vorschein – gerade in der Architektur, im Städtebau.

Eine letzte Frage: Wie wird denn Aichers Werk deiner Erfahrung nach in den USA heute gesehen?

Ich glaube, Aichers Einfluss ist heute noch in Mitteleuropa riesig; aber darüber hinaus – nach meinem Eindruck – nicht. In Amerika zum Beispiel sind Aichers Vorläufer, etwa die Vertreter der Schweizer Grafik, noch immer einflussreich. Besonders die Basler Schule ist hier als Institution viel wichtiger als die HfG Ulm. Einige der heute wichtigen amerikanischen Designer haben in Basel studiert und kehrten dann in die USA zurück, auch um zu lehren. Vielleicht liegt es daran, dass die Ideen von Schweizern wie Max Bill, Josef Müller-Brockmann, Armin Hofmann und Wolfgang Weingart auf diese Weise stärker nach Amerika getragen wurden.

Stefan Sagmeister, geboren 1962 in Bregenz, studierte zunächst Grafik-Design an der Universität für angewandte Kunst in Wien, dann als Fulbright-Stipendiat am renommierten Pratt Institute in New York. 1993 gründete Sagmeister in Manhattan sein eigenes Büro, das Grafikstudio Sagmeister Inc. Der Österreicher wurde mit Arbeiten berühmt, bei denen er oftmals Schriften räumlich inszenierte. Über 200 Design-Preise hat der viel beachtete Grafiker inzwischen bekommen. Sechsmal insgesamt wurden seine CD-Hüllen für den begehrten Grammy-Award nominiert und zweimal ausgezeichnet. Nicht nur seine Arbeiten für Bands wie Aerosmith und Talking Heads, auch seine zahlreichen Vorträge auf Konferenzen, Ausstellungen zu großen Themen wie Glück und Schönheit sowie sein „Happy Film“ machten ihn auch außerhalb der Designszene einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. www.sagmeister.com