Was ist aus Otl Aichers einstigem Domizil geworden? Ein Ortsbesuch im Allgäu.
Die Stadt in Schwarz und Weiß
Isny im Allgäu verdankt Otl Aicher ein Corporate Design, das prägnant, mutig und singulär ist
Schwarz-weiß und fast quadratisch, modern und kantig: Konträr zur gängigen Tourismuswerbung deutscher Städte gestaltete Otl Aicher für den Kurort Isny im württembergischen Allgäu mit auffälligen Symbolen eine Corporate Identity – das Stadtdesign. Dem Entwurf ging ein langer Prozess voraus: Anlassbezogen, ohne festgeschriebenen Auftrag, ließen sich die Stadt und der Gestalter Otl Aicher in den Siebzigerjahren auf das Projekt ein, das vom Suchen und Erforschen, aber auch klaren Zielen geprägt war. Die Designhistorikerin Dagmar Rinker hat 2009 anlässlich der Heimattage Baden-Württemberg im Ulmer Museum eine Ausstellung kuratiert, die Aichers Arbeiten für Isny zeigte. Wir dokumentieren ihre Texte, die seinerzeit auf Stelen zu lesen waren, die von der Aicher-Mitarbeiterin Monika Schnell gestaltet wurden.
„Die Selbstdarstellung von Städten heute“ ist das Thema einer Tagung des Kulturausschusses des Deutschen Städtetags im Jahr 1966. Der Vortrag von Otl Aicher „die stadt in schwarz und weiß“ bezieht sich auf Ulm. Konkreter Anlass für Aichers Überlegungen ist die seinerzeit aktuelle Diskussion, in welchen Farben die öffentlichen Verkehrsmittel lackiert werden sollen. Erläuternd zum Text erarbeitet Aicher erste Skizzen für ein Erscheinungsbild der Stadt Ulm, das jedoch nicht realisiert wird.
Das Wappen der Stadt Ulm, ein zu gleichen Teilen horizontal halbiertes Schild in schwarz und weiß, ist seit 1381 auf einem Stadtsiegel belegt. Aicher sieht in dieser Reduktion auf die zwei unbunten Farben eine Vielzahl an gestalterischen Möglichkeiten, denn „intelligenz, fantasie und spiel kommen gerade dann in erscheinung, wenn man sich in den elementen begrenzt. es bringt nichts, das schachbrett um eine farbe zu erweitern, der spielmöglichkeiten gibt es genug.“ Das gegenwärtige Erscheinungsbild der Stadt Ulm basiert auf dem Schwarz-Weiß-Kontrast. Hermann Ay, der es 1987 mit seinem Büro erarbeitet, studierte in der Abteilung Visuelle Kommunikation an der HfG Ulm. Zeit seines Lebens prägt die Nähe zu seinem Freund und ehemaligen Dozenten Otl Aicher seine gestalterische Arbeit.
Fotografien und Strukturen
Im Sommer 1959 zeigt das Ulmer Museum eine Ausstellung mit Plakaten und Fotografien von Otl Aicher, die zwei Monate später vom Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro übernommen wird. Unverkennbar an den Schwarz-Weiß-Aufnahmen ist der Blick des Grafikers: Aicher fotografiert aus einem großem Abstand Situationen, die eine Vielfalt von zufälligen und freien bis hin zu rhythmischen und strengen Ordnungen zeigen. Dabei ist nicht die Wiedergabe der Wirklichkeit relevant, sondern die grafische Deutung des durch die Fotografie fixierten visuellen Eindrucks. In erster Linie nimmt er Landschaftsformationen, Reihungen im Wald und symmetrische Spiegelungen in der Stadt auf. Die darin erkennbaren Strukturen sind die Hauptmotive der Bilder. Otl Aicher schätzte diese Fotografien sehr, sie hingen in seinem Wohnhaus auf dem Campus der Hochschule für Gestaltung; auch publizierte er sie in den 60er Jahren in den Monatsprogrammen der Ulmer Volkshochschule. 1976 nimmt er das Thema Strukturen wieder auf, diesmal grafisch umgesetzt. Für das Erscheinungsbild der Stadt Isny entwirft Aicher Bildzeichen aus Linie, Punkt und Form. Diese Grundelemente werden in parallele Anordnungen oder in einem Raster verdichtet, Räumlichkeit erzeugt er durch Staffelung oder durch Veränderung von Größe und Lage.
Piktogramme
Piktogramme sind vereinfachte grafische Darstellungen von Gegenständen der sichtbaren Welt. Ihre Qualität ergibt sich aus der Reduktion auf die wesentliche Information. Otl Aicher entwickelt diese Bildzeichen ab 1967 zunächst für den Frankfurter Flughafen. Er erweitert sie für die Olympischen Spiele in München 1972 um ein Vielfaches und formuliert ein heute weltweit verbreitetes Piktogrammsystem. Für das Erscheinungsbild der Stadt Isny übernimmt Aicher Komponenten der Piktogrammgestaltung: die abstrahierte Schwarz-Weiß-Zeichnung sowie auf Kopf, Rumpf und Gliedmaßen reduzierte Figuren. Betrachtet man unter dem Blickwinkel der strengen Definition eines Piktogramms die Bildzeichen für Isny, so fehlt diesen das Kriterium der eindeutigen Erkennbarkeit. Aicher beabsichtigt diesen scheinbaren Mangel. Zwar wählt er ebenfalls vereinfachte grafische Darstellungen, doch bei Isny mit der Absicht, dass hier die Bedeutung dem Bild meist nicht direkt entnommen werden kann, sondern assoziativ erschlossen werden muss. Mit dieser Art der Illustration können auch nicht abbildbare Begriffe wie beispielsweise „Heimat“ durch Landschaften und Tiere sinnbildhaft dargestellt werden.
Nachtrag aus aktuellem Anlass
Zwischen Otl Aicher und Isny bestand eine besondere Verbindung, die sich nach dessen Umzug in den Weiler Rotis vertiefte. Zwischen 1977 und 1985 sukzessive entstanden – stets anlassbezogen – Bildzeichen, sie vor allen die Vielschichtigkeit von Stadt und Region vermitteln sollten. Allen ist gemein, dass ihre Motive mit schwarzen Linien auf weißem Grund in fast quadratischem Rahmen angelegt sind. Zusammengenommen entstanden 136 Motive. Mit dem Erscheinungsbild für Isny hat Aicher ein Exempel moderner Stadtwerbung statuiert.
„Was Aicher für Isny geschaffen hat, ist von unschätzbarem Wert“, betont Rainer Magenreuter, Bürgermeister der Kleinstadt im Allgäu. Zu Aichers 100. Geburtstag präsentiert sich Isny deswegen im Licht des von ihm geschaffenen Erscheinungsbildes. Zugleich ist mit der Idee, die Bildzeichen jetzt im Jubiläumsjahr lebendig werden zu lassen, sei ein pralles Veranstaltungsprogramm entstanden. Es begleitet eine Ausstellung im „Aichermagazin“, einem eigens für die Festivitäten entstandenen Pavillon. Am 21. Mai startet in Isny das Aicher-Jubiläumsjahr.
Die einzelnen Veranstaltungen orientieren sich an den Motiven der Bildzeichen. Bis Oktober sind alle eingeladen, den für die Stadt so wichtigen Gestalter kennenzulernen. „Alle Angebote laden außerdem dazu ein, selbst aktiv zu werden“, sagt Karin Konrad vom Projektteam der Isny Marketing Gesellschaft, das die Jubiläumsaktivitäten steuert. Bei den Exkursionen der Reihe „Tannen, Heu & Apfelbaum“ beispielsweise geht es hinaus in die Natur: zu den Wäldern und Wiesen, die Aicher auf so manchem Bildzeichen festgehalten hat. Kräuterkundlerinnen, Allgäu Ranger und Baumpfleger geben Einblicke in die Welt der Adelegg, des Krauts und der Gehölze.
Aicher zum Hundertsten: Mit seinem umfangreichen Jubiläumsprogramm reiht Isny sich in die Riege der Gratulanten ein. Zum Auftakt des Jubiläums isnyaicher22 wurden bereits im März nach und nach einige Bildzeichen im Stadtraum installiert. Als Großformate an der Stadtmauer, auf Plakaten am Kurhaus oder auf den Bannern an den Ortseingängen. Ganz bewusst werden keine weiteren Informationen zu den Motiven gegeben. Damit wird Aichers Idee weiterverfolgt: Die Bildzeichen stehen nicht als reine Abbildungen, sondern sollten in ihrer radikalen Reduktion Raum für Fantasie und eigene Assoziationen lassen. So laden etwa die Katze, oder die Ente im Schilf und das stilisierte Monument namens Espantor alle dazu ein, bei einem Spaziergang durch die Stadt ihre eigenen Geschichten und Eindrücke entstehen zu lassen. Die originalen Bildzeichen aus der Hand von Otl Aicher führen um Gebäude herum und hinein in Stadt und Region in ihrem schwarz-weißen Gewand. Orts- und fachkundige Menschen erzählen in hörbaren, per QR Code zugänglichen Geschichten von ihrem Isny – von Tradition und Handwerk, von Landschaft und Natur sowie von den Isnyern, die hier leben und arbeiten.
Ab 21. Mai wird das Herzstück des Jubiläums eröffnet: der temporäre Ausstellungsbau – das aichermagazin. Inmitten des Isnyer Kurparks geben die Kuratorinnen Monika Schnell und Renate Breuß mit Wort, Ton und Bild Einblick in die Verbindung zwischen Stadt und Gestalter. Im Innenraum treffen die Ausstellungsbesucher auf Aicher selbst: Auf den Menschen und den Gestalter, auf den Ort Rotis, wo er gearbeitet und gelebt hat. Texte, Anekdoten und Fotos geben Einblicke in Aichers feldforschende Herangehensweise, in sein Denken und sein Machen, das in seiner Arbeit für Isny anschaulich wird.
Das aichermagazin ist 24 Stunden am Tag an 7 Tagen in der Woche zugänglich und kostenfrei. Es soll ein Ort zum Verweilen entstehen, ein Aktionsraum und Ausgangspunkt, die Stadt Isny neu zu entdecken, so haben es die Initiatoren geplant.
Weitere Informationen: www.isny.de/otlaicher/
Gerrit Terstiege
Die kommunikative Küche: Aichers Rezepte für Bulthaup
„Die Küche zum Kochen” – Genese eines Buches, das noch immer aktuell ist
„Die Küche zum Kochen” – Genese eines Buches, das noch immer aktuell ist.
Jens Müller
Zeitenwende im On-Air-Design
Mit seinem Erscheinungsbild für das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) wollte Otl Aicher „das typografische bild der bildröhre präzisieren“.
Florian Aicher
Ein Bildnis machen
Erstmals der Öffentlichkeit zugänglich: Die Büste, die Otl Aicher von sich selbst fertigte
Sie schufen die Signatur einer Epoche: die Gestalter Otl Aicher, Willy Fleckhaus, Anton Stankowski und Kurt Weidemann.