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Tuchfühlung mit den Dingen

Otl Aicher und das Abenteuer der Oberfläche: Die Rede zum hundertsten Geburtstag des Gestalters, gehalten in Ulm.

Aicher posiert: Foto aus dem Jahr 1953, bearbeitet von Eva Hocke für das Plakat zur Aicher-Geburtstagsausstellung „Otl Aicher 100 Jahre. 100 Plakate“ im Ulmer HfG-Archiv. © MüllerHocke, Bad Saulgau.

Aicher, der Rebell: Er war ein „Homme der Revolte und der Verzweiflung, ein deutscher Camus“, sagt Tilman Allert. Zu Aichers hundertstem Geburtstag würdigt der Frankfurter Sozialforscher und Exponent einer „Soziologie der kleinen Dinge“ den Ulmer Gestalter als einen „um Authentizität bemühten katholischen Intellektuellen“. Tilman Allerts viel beachteter Festvortrag ist hier nachzulesen – ungekürzt.

Unter den Jubiläumsreden zählt die Würdigung eines hundertsten Geburtstags zweifellos zu den angenehmsten. Bis auf wenige Ausnahmen sind die Einspruchsmöglichkeiten des Jubilars reduziert. Dennoch geht Risiken ein, wer wie unsereiner hier und heute Eulen nach Athen trägt.1 Vermutlich ist über Otl Aicher alles geschrieben. So mache ich aus der Not, Bekanntes nicht wiederholen zu wollen, eine Tugend. Mein Zugang zu Werk und Person bemüht eine Abstraktion. Sie rückt die Partikularität des Falles in eine Vergleichsdimension und arbeitet typologisch übergreifende Merkmale heraus. Davon verspreche ich mir, das Besondere zu entexotisieren, was bei Aicher-Kundigen keine Besorgnis auslösen wird, denn am Ende müssten sich die vielen anekdotischen Einzelheiten sowie gleichermaßen anspruchsvolle Deutungen erneut zusammenfügen lassen.

Neues habe ich nicht mitgebracht, nicht mehr als das legendäre Plakat, das den jungen Aicher in seinem Büro zeigt. Das, so meine These zu Beginn, zeigt den ganzen Aicher. Entschlossen vor der Brust verschränkte Arme, die Pose gebremster Nonkonformität – ihr möchte ich nachgehen.

Aicher demonstriert Entschlossenheit. Seine Pose beeindruckt noch heute. Eva Hocke, die Gestalterin des Plakats zur Geburtstagsausstellung, nutzte das viel gezeigte Aicher-Foto aus dem Jahr 1953. Fotograf oder Fotografin sind nicht bekannt. © MüllerHocke, Bad Saulgau.

Blick in die Geburtstagsausstellung „Otl Aicher 100 Jahre. 100 Plakate“ im Ulmer HfG-Archiv. Im Vordergund: Die frühen Aicher-Plakate für die Ulmer Volkshochschule (vs ulm). © Oleg Kuchar, HfG-Archiv / Museum Ulm.

Trügerisches Idyll: Raketen stehen „im schönsten Wiesengrunde": Plakat für die Friedensbewegung, 1983. Entwurf: Otl Aicher © Florian Aicher, Rotis.

Blick in die Geburtstagsausstellung „Otl Aicher 100 Jahre. 100 Plakate“ im Ulmer HfG-Archiv. Im Vordergund: Die frühen Aicher-Plakate für die Ulmer Volkshochschule (vs ulm). © Oleg Kuchar, HfG-Archiv / Museum Ulm.

Die folgende Argumentation bemüht konfessionsgeschichtliche wie familiengeschichtliche Zusammenhänge, über die sich die Zufälligkeit einer Lebensgeschichte zu einer Biografie verdichten lässt, zu einer „Intellektualgestalt“, ein Begriff des Philosophen Dieter Henrich, der die Wechselwirkung von individueller Motivationsgeschichte und den Wandlungen in der Weltbeziehung erfasst.2 So stehen wir in der Geschichte von Otl Aicher vor einem Menschen, der in einer Gewissheit ausstrahlenden Struktur, einem katholisch geprägten Kosmos, aufwächst und in dessen Weltwahrnehmung die Erfahrungen im Elternhaus sowie die erzieherische Wirkung des Kriegsdienstes etwas gedeihen lässt, was prima vista überhaupt nicht zur deklarierten Nonkonformität passen will: die Begeisterung für die Oberfläche. Aicher, das im Vorgriff, in der „Tuchfühlung mit den Dingen“ – ein Programm, das im Übrigen an die Erkenntnisperspektive einer phänomenologisch orientierten Soziologie unmittelbar anschließt – weiht die Oberfläche. Er sakralisiert den ersten Eindruck. Die verschränkten Arme auf dem Plakat bringen eine Haltung zum Ausdruck. Was wir sehen, ist typisch für die Logik des Designs.

Aus der Sicht eines Soziologen handelt es sich beim Design um einen visuellen Gruß vor dem Gruß. Und wenn wir den Lesarten der Pose nachgehen, in der uns der junge Mann mit Anfang dreißig begegnet, so rücken die Strukturmerkmale einer komplexen biografischen Disposition wie von selbst nach vorn: Hier kultiviert jemand die Arbeit, die Armbanduhr markiert die Abhängigkeit von Zeitdiktaten. Die Ärmel sind hochgekrempelt und lenken den Blick auf eine kräftige Muskulatur, die auf alles andere hindeutet als auf eine Bürotätigkeit. Ausdrücklich verzichtet das Porträt auf die ästhetische Stimmigkeit mit dem Erscheinungsbild eines bürgerlichen Berufs. Zweifellos wird dabei – im Sinne des Aufräumens – das Soliditätsversprechen nicht getilgt. Kurzum, wir haben die Inszenierung eines entschlossenen Beginns vor uns, zum Rasieren bleibt – schon Anfang der fünfziger Jahre – kaum Zeit.

Inszenierung eines entschlossenen Beginns: Aicher im Atelier, 1953 (vor hängendem Regal) © HfG-Archiv / Museum Ulm.

Am Arbeitstisch in Rotis: Aicher 1989. Foto: © FSB – Franz Schneider Brakel.

Die Ärmel hochgekrempelt: Aicher 1953 © HfG-Archiv / Museum Ulm.

Am Arbeitstisch in Rotis: Aicher 1989. Foto: © FSB – Franz Schneider Brakel.

Wie kommt das Leben in das, was man beruflich tut? Wie wird einer das, was er wird, wie werden wir, wer wir sind? „Die Welt als Entwurf“ umschreibt bekanntlich prägnant wie exemplarisch den intellektuellen Impuls für Otl Aichers Arbeiten. Wie müssen wir uns den Einfall des Lebens in seiner Biografie vorstellen? Wie werden die Weichen gestellt, in Werk und Person Otl Aichers, wie entstehen Lesarten einer gezähmten Rebellion, die ihren Ausdruck in der Begeisterung für die Oberfläche findet?

Darin liegt die faszinierende Paradoxie dieser Biografie, die contre coeur die widersprüchlichsten Merkmale zu einer Einheit führt. Das Bauprinzip meiner Rekonstruktion – gleichsam die Backanleitung des Geburtstagskuchens – ist dem Strukturalismus verwandt, soviel sei zur Methodologie an dieser Stelle ergänzt. Nicht geht es mir um eine schlichte Sequentialität: „Es war einmal …“, Aicher wurde am 13. Mai 1922 geboren, „und dann hat er den Ortspfarrer getroffen, dann ging er als Soldat in den Krieg und dann wurde die HFG gegründet … und dann erhielt er einen Auftrag, zur visuellen Gestaltung der Olympischen Spiele in München 1972“. Vielmehr konzentrieren wir uns auf eine „Initialerinnerung“ (Maurice Halbwachs), die sich in ihren Bestandteilen weiter aufschichtet, im Goetheschen Sinne metaphorisiert, jedoch in der gesättigten Transformation noch sichtbar bleibt.

Die Augen des jungen Katholiken sind hungrig

Familiengeschichtlich hat Otl als erster Sohn und zweites Kind der Eheleute Aicher die besten Karten. Das Schicksal Erstgeborener, der sozialisatorischen Unbeholfenheit der eigenen Eltern ausgeliefert zu sein, bleibt ihm erspart. Drei Geschwister werden in einer zutiefst gläubigen Handwerkerfamilie geboren, in einem Abstand von jeweils einem Jahr, mit der Schwester Hedwig, 1920 geboren, und dem um ein Jahr jüngeren Bruder Georg, 1923 geboren. Meinem ehemaligen, jüngst verstorbenen Kollegen Hermann Bausinger verdanke ich eine Typusbestimmung des Schwäbischen. Mit dem Bausinger eigenen Augenzwinkern hat er den Schwaben als einen Menschenschlag charakterisiert, der sich entschlossen hat, heimlich zu denken. Dazu wäre Otl Aicher der Gegentyp. Otl denkt gleichsam öffentlich – und das heißt, wenn wir das Kapitel Kindheit und Jugend aufschlagen – im wesentlichen freundschaftsöffentlich, in der ständigen Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten seiner Generation.

Das will genauer bestimmt werden, denn seine spezifische Form der Aufmerksamkeit auf die Welt verdankt sich paradoxerweise der Selbstgewissheit eines in der göttlichen Ordnung aufgehobenen jungen Menschen. Nicht zu verwechseln, ja geradezu kontrastiv dazu, mit dem gläsern, blasierten Ethos des Calvinisten, dessen Verständnis von Gott und der Welt, von sich selbst in der Welt von Selbstgerechtigkeit nicht zu unterscheiden ist. Bei Otl ist das anders. Im emphatischen Sinne ein Gotteskind, dem die Botschaft des „Mir wird nichts mangeln“ eine Lebensmaxime wird, ein Optimismus der vita activa: „Ich mach‘s wie der Herr“. Die demütige Hinnahme einer im katholischen Weltverständnis eingelagerten Selbstgewissheit steht nicht etwa im Widerspruch zur Zugewandtheit, vielmehr setzt sie eine geradezu unbändige Neugier, das Motiv der autonomen Erforschung der Welt frei. Die Erkenntnisleistungen des wissenschaftlichen wie philosophischen Denkens werden in ihrem Geltungsanspuch akzeptiert, von der Person aufgegriffen und zwar in dem Maße, in dem es gelingt, sie durch eigenes Denken anzueignen. Sie sind gleichsam Bestandteil der von Gott geschaffenen Welt.

Das philosophische Denken Martin Heideggers, Küfnersohn mit bäuerlichem Milieuhintergrund, erschließt sich bekanntlich über die Phänomenologie der Hütte, die berühmte Hütte in Todtnauberg. Auch Aichers Schritt in die gedankliche Auseinandersetzung mit der Welt erfolgt über eine spezifische Räumlichkeit, seine Bude, in die er sich im Elternhaus zurückzog.3 Und mehr noch: Die offensive, nicht selten das Pedantische streifende Art4, sich intellektuell die Welt anzueignen, hat mit der katholischen Herkunft, dem Handwerker-Elternhaus zu tun. Der hundertste Geburtstags mag als Anlass ungeeignet sein, im Lichte der Biografie Otl Aichers eines der leidvollen Themen der deutschen Kulturgeschichte, die Asymmetrie zwischen Bildungsprotestantismus und katholischem Milieu aufzurollen – obwohl mit den Protagonisten Aicher und Scholl, die sich zudem in einer familiendynamisch bemerkenswerten Konstellation begegnen, das Thema geradezu erzwingen – dennoch sei es erwähnt. Auch deshalb, weil wir in dem katholischen Intellektuellen Carl Muth6 einer Person begegnen, die im biografischen Exposé des jungen Otl die Position einer geistigen Patenschaft einnimmt.

Muth gelang in seinen Schriften sowie in Diskussionen mit der bildungshungrigen katholischen Jugend – exemplarisch Otl Aicher – die angesprochene Asymmetrie zu korrigieren. Mit dem jugendlichen Otl befinden wir uns in einem soziohistorischen Raum, in dem das Heraustreten von Heranwachsenden aus der tragenden Wärme des Elternhauses begleitet ist von einem phantasievollen, kühnen Phantasma der Übertreibung. Exzentrisch, herausfordernd, in grandioser Selbstüberschätzung, unbeholfen und exzessiv intellektuell neugierig, erfolgt der Prozess des Erwachsenwerdens, eingeleitet durch die Turbulenzen im Entwicklungsstadium der Pubertät. Und affektiv begleitet von einem seelischen Vorgang, den Sigmund Freud als Familienroman beschrieben hat. Sukzessive wird das eigene Elternhaus vom Sockel gestoßen, kognitiv und in den meisten Fällen zusätzlich moralisch disqualifiziert – in den Elternhäusern der Freunde, so auch die Wahrnehmung des jungen Rebellen, gehen die Gespräche gehaltvoller zu, zugeneigter, nicht so engherzig.

„Ich trieb meine Freunde in den Rigorismus logischer Konsequenzen, in eine intellektuelle Selbstbezichtigung, um jede Denkgewohnheit in Frage zu stellen“, so erinnert sich Aicher in der autobiografischen Schrift „Innenseiten des Kriegs“ an seine Jugend.7 Mit den Geschwistern Scholl öffnet sich der Blick auf ein weiteres Strukturmerkmal seiner Biografie, die Wechselwirkung von Selbstmission und Patensuche, zwei seelische Strebungen, die sich nicht etwa widersprechen, die vielmehr einander bekräftigen.

Im Angesicht des Schreckens und vor dem Hintergrund der Möglichkeit des eigenen Todes wächst Aichers Aufmerksamkeit für die Schönheit der Dinge – die Tuchfühlung mit den Dingen.

Der Gestus der Radikalität ist für Otl Aicher bestimmend, vorbereitet durch eine sozialisatorische Kultur, die im Horizont einer ungefragten Zugehörigkeit zum katholischen Kosmos sowohl Neugier als auch Eigensinn begünstigt. Ein Elternhaus, das sich wie selbstverständlich in Gottes Hand wähnt und in dem paradoxerweise die demütige Hinnahme der Welt so, wie sie ist, das Bemühen um ihre Erschließung nicht ausschließt, eine Erschließung im Habitus desjenigen, der in eigener Anstrengung vorgeht – in großer Geste, im Handstreich – autodidaktisch und das geschieht bei jungen Leuten unter dem unhintergehbaren Risiko der gedanklichen Bricolage. Aicher als Bricoleur, dem gleichsam „nichts zu schwör“ ist, entwickelt eine Radikalität in kognitiver wie in moralischer Hinsicht, zupackend und rigoros in den Urteilen, die zugleich in der Auseinandersetzung mit Freunden in der peer group überprüft werden wollen. In diese Disposition lassen sich die bekannten Befunde aus seiner Biografie problemlos einsetzen, seine Nonkonformität gegenüber dem diktierten Enthusiasmus der bündischen Jugend, das Nein gegen Hitler, die Abscheu gegen den Einsatz als Soldat. „Machen ist wie Wollen, nur krasser“ – der Spruch, jüngst als Aufschrift entdeckt an einem VW-Bulli in Kreuzberg, Berlins Start-Up-Paradies, Otl Aicher hätte ihn erfinden können.

Wird die Einstellung demütiger Hinnahme der Welt als von Gott gegeben mit den affektiven Strebungen der Pubertätskrise konfrontiert, erscheint ein Umschlagen in Hochmut nicht überraschend. Die Gewissheit, ein Gotteskind zu sein, stiftet die Einheit im vermeintlich Gegensätzlichen. In einem Brief an den befreundeten Willi Habermann8 denkt Otl Aicher darüber nach, ob ein Gottgläubiger hochmütig sein dürfe, ob der Hochmut nicht damit unverträglich sei, „… aber der Hochmut ist gerade dadurch, dass er extrem ist, näher beim Christlichen – wer von Gott weiß und dabei hochmütig ist, kennt Gott nicht oder er hat keine Kraft mehr, sich selbst zu leben, wie es einst Augustinus ging. Aber was ist schlimmer: einer streitet, geblendeten Auges im Hochmut gegen Gott, oder einer ist ohne alle Veranlagung zum Hochmut, weil er sich von einem halben Leben hat einlullen lassen … Wohl war der Stolz der Anfang unserer Welt, ihr seid dann wie Gott“.9 Die Offenheit, die hierin zum Ausdruck kommt, beeindruckt in ihrer verblüffenden Ehrlichkeit – nicht im Widerspruch dazu steht die Beobachtung, es im sterilen Duktus eines Abituraufsatzes mit einer Oberschüler-Vermessenheit zu tun zu haben.

Wer kennt nicht aus den Frühzeiten der eigenen Lebensgeschichte das eigenartige Tremolo, in dem Jugendliche ihre ersten Ausflüge in das geistige Erbe Europas nehmen und in der ersten Aneignung – Lesekreise, kleine Angebereien gegenüber der Freundin – in der angestrengten Geste des Rodinschen Denkers erste eigene Sätze zu Hegel, Kant und Wittgenstein im Gespräch von sich zu geben wagten – so kühn enzyklopädisch und oft assoziativ eher als systematisch liest sich Aichers Ausflug in die Philosophie.10 Kognitiv sind seine Ausflüge strukturiert über das Schauen, nicht über die Logik einer systematisch angelegten Rezeption, affektiv motiviert über die Figur juvenilen Abenteuertums. Im Ergebnis haben wir die spezifische Ausdrucksgestalt des fragmentierten und zugleich extrem selbstmissionarischen Zugriffs auf die geistige Welt als eine weitere bestimmende Weichenstellung vor uns.

Die Augen des Soldaten sind hungrig

Was macht der Krieg mit uns, wie wird eine extreme Erfahrungssituation im biografischen Exposé einer Person zugerechnet? Bei der Lektüre der „Innenseiten des Krieges“ stockt dem Leser der Atem. Aichers Aufzeichnungen zu den Stationen seines Einsatzes im Russlandfeldzug – Cherson, Charkiw, Kersch – lassen die Namen von Städten und Gegenden aufleben, die im gegenwärtigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine in Schutt und Asche gelegt werden. Umso eindringlicher ist es, vor diesem Hintergrund, die spezifische Erfahrungssituation des kriegsunwilligen Soldaten Otl Aicher herauszuarbeiten Ein junger Mann, der an allem interessiert stärker ist als daran, sich wie seine Kriegskameraden enthusiastisch in den Kampf zu werfen. Die Implikationen für den beruflichen Werdegang sind bestürzend wie stimmig zugleich. „ich kannte kein schöneres behältnis als den blechernen benzinkanister, leicht gewölbt, abgerundete ecken, mit versteifungssiggen auf den breitflächen, einem hebelverschluss, der in den gesamtkörper eingezogen war …“11

Wie lässt sich interpretieren, dass unter akut lebensgefährlichen Bedingungen eine derartig intensive geistige Reflexion zustande kommt? Ohne an dieser Stelle auf die Interdependenz von Gefahr und Innovation systematisch eingehen zu können, bietet sich an, im Falle Otl Aichers in der Gefahrensituation die Inspirationsquelle für seine Intellektualität zu sehen. Nicht etwa in einer Mußesituation rückt die Idee von einer Ästhetik der Dinge nach vorn, vielmehr in einer Krise, eine Krise, die sich als Krise präzise bestimmen lässt. Sie konfrontiert die Person mit der Möglichkeit des Todes und diese Möglichkeit eines plötzlichen Verlustes des Weltbezugs bringt sich in dem Paradox zum Ausdruck, die Sinne zu schärfen. Otl entwickelt eine Schreibintensität, Schwester Hedwig, der Freund Willi Habermann sind die Empfänger eines gestiegenen Mitteilungswunsches.

Man könnte geradezu von einer Gefechtspausenlyrik sprechen, eine Reflektivität, die als ein Merkmal aus zahlreichen Soldatenbriefen bekannt ist. Im Angesicht des Todes werden Selbstüberschätzungspotentiale der Person ins Extrem gesteigert. Als eine weitere Evidenz sei auf die Briefe zu Otls Michelangelo-Lektüre verwiesen. Der Wunsch, ein Bildhauer zu werden, folgt diesem Phantasma geradezu stimmig, wenn er etwa schreibt: „Auch Michelangelo hat ja die Kunst, verworfen, weil sie ein vom Wahren ablenkendes Märchen sei. Aber was ihn der Schmerz zu sagen drängte, war bei Plato eine mangelhafte Einsicht zustande kommt – der Irrtum, dem auch Augustinus noch nachhing, dass unsere Natur sich nicht an der Welt zu dieser Höhe erhebe, wo sie dann der Gnade würdig wird, vielmehr intuitiv, von oben her und ohne die Sinne ihre Erkenntnis gewänne …“12

Die Struktur dieser komplex geschichteten Argumentation strahlt beides aus: Der Autor hat den Bildungskanon rezipiert, woraufhin er in unerschrockner Kühnheit Synthesen und Schlussfolgerungen von einer Verschachteltheit wagt, die in einem Habilitationstext niemand sich zu formulieren trauen würde. Unabhängig davon, dass auch im Falle Aicher nachträgliche Betrachtungen ich-synthon, wie es die Psychoanalyse nennt, zusammengefasst werden, sollte man die motivierende Ausgangssiuation nicht unterschätzen, das Denken erscheint als Versuch, einer extremen Erfahrungssituation geistige gewachsen zu sein, die „transparente Substanz seiner besten Augenblicke“, eine Formulierung von Marcel Proust, intellektuell aufzunehmen. Wir können somit von einer objektiv inspirierenden Lebenslage ausgehen – im Angesicht des Schreckens und vor dem Hintergrund der Möglichkeit des eigenen Todes gedeiht eine geradezu schwebende Aufmerksamkeit auf die Schönheit der Dinge – die „Tuchfühlung mit den Dingen“.13

Die Augen des beschämten Heimkehrers suchen nach Heilung

Über Otl Aichers Antworten auf die Katastrophe des Kriegs, auf den Zivilisationsbruch, der im deutschen Namen an den Völkern Europas verübt wurde, lastet der Schatten einer tief empfundenen Schuld gegenüber Sophie und Hans Scholl sowie den anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Seine Jugendfreundschaft zu den Kindern der Familie Scholl gewinnt eine sein Leben fortan bestimmende Kraft, affektiv durch die Ehe mit Sophies älterer Schwester Inge, kognitiv durch das Projekt einer umfassenden moralischen und ästhetischen Korrektur, der Hochschule für Gestaltung. Ohne an dieser Stelle näher darauf eingehen zu können, ist bemerkenswert, dass ähnlich der Erfahrungsverarbeitung bei Günter Grass, und wiederum ähnlich der von Joseph Beuys auch Otl Aicher mit dem Berufswunsch heimkehrt, Bildhauer zu werden.

Diese verblüffende generationstypische Übereinstimmung bedarf einer sorgfältigen Analyse, die beginnen müsste mit dem übergreifenden Motiv, sich auf die autonome Gestaltung eines Ganzen zu konzentrieren, der Erfahrung moralischer Konfusion und leiblicher Zerstörtheit ein materialiter objektiviertes Werk entgegenzusetzen. Um die Linien von Aichers Lebensweg nach der Heimkehr aus dem Krieg rekonstruieren zu können, sei eine atmosphärische Notiz von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1962 vorangestellt: „Die Menschen stehen unter einem Bann. Sie können nicht anders; ihr Sosein – von dem loszukommen die Utopie ist – und die Welt, in der sie leben, sind absolut, wie es bei Beckett heißt göttlich; sie sind nicht nur unfrei, sondern noch vom möglichen Bewusstsein der Freiheit abgeschnitten, es ist das Hinkriechen, sich Hinschleppen unter einer Last.“ Und weiter: „Es ist ein nicht wiedergutzumachendes Unglück, dass in Deutschland alles, was irgend mit dem Glück der Nähe, Heimat zu tun hat, der Reaktion verfallen ist … An keinem Winkel kann man sich freuen ohne sich zu schämen und ohne Gefühl der Schuld. Dadurch geht etwas verloren, was dem Fortschritt zu retten wäre. So ergibt sich die blanke, totale, grauslige Alternative von Butzenscheibe und Streamlining, die auf eine finstere Weise auch noch komplementär sind.14

Da sind wir also: Das Podium, die Studiobühne des Theaters Ulm, spielt Sartres Geschlossene Gesellschaft. Plakatgestaltung: Otl Aicher 1952 © Florian Aicher, Rotis.

Nüchterner Schwarzweiss-Entwurf: Plakat für die Ulmer Volkshochschule, 1953 © Florian Aicher, Rotis.

Da sind wir also: Das Podium, die Studiobühne des Theaters Ulm, spielt Sartres Geschlossene Gesellschaft. Plakatgestaltung: Otl Aicher 1952 © Florian Aicher, Rotis.

Nüchterner Schwarzweiss-Entwurf: Plakat für die Ulmer Volkshochschule, 1953 © Florian Aicher, Rotis.

Die Nachkriegszeit, in der kollektive Lähmung, intellektuelle Stagnation, Provinzialisierung und Sterilität der deutschen Kultur moralische und geistige Initiativen zu hemmen drohen, setzt bei Otl Aicher die Perspektive einer umfassenden Korrektur frei – nicht übertrieben wäre es, von einem Heilungsversuch zu sprechen. Das Programm, nach seiner Verwicklung mit dem Schicksal Sophie Scholls, als Selbstverpflichtung überdeterminiert, findet seinen institutionellen Ausdruck in dem Aufbau der Volkshochschule sowie der Hochschule für Gestaltung.15

Vor dem Hintergrund der hier nur skizzenhaft entworfenen Aufschichtung des biografischen Materials ist es nicht übertrieben, von einer Selbstmission zu sprechen, eine Selbstmission, die insbesondere im Design ihren Austragungsort findet. Der für Aicher bestimmende Gestus des Rebellen hat bei Aicher etwas von Hochstapelei, sie ist dem objektiven Gehalt der Philosophie der Ulmer Hochschule (HfG) immanent: die Utopie als etwas schon Existierendes darzustellen. In seiner Vorstellung vom Design reproduziert sich die einleitend herausgearbeitete Figur der gebremsten Rebellion: Er weiß nicht, wo anzufangen ist. Jedes Element der bürgerlichen Lebensgestaltung – nicht etwa nur das Sofa, das ihm im juvenilen Habitus des Rebellen als ein bürgerliches Möbel verhasst war – gerät in den Verdacht, die Sterilität und Einfallslosigkeit fortzusetzen. Buchstäblich wird das „material me“ der deutschen Gesellschaft zur Disposition gestellt und von seinem Büro aus entwickelt sich eine Art „Ulm insoumise“, eine kompromisslose Revision bürgerlicher Lebensgestaltung, die in ihrer Radikalität an die Bauhaus-Tradition und die Geometrisierung der Formensprache anschließt. Folgerichtig entstehen legendäre Abhandlungen und Essays, die hier im Einzelnen nicht aufzuzählen sind: Aufsätze über Türgriffe, die Schrift, die Küche oder das Auto.

Plakat für die Ausstellung „Protest! gestalten: Von Otl Aicher bis heute“ MüllerHocke GrafikDesign, Bad Saulgau © Museum Ulm.

Plakat für eine Versammlung der Friedensbewegung in Stuttgart, 22. Oktober 1983, Otl Aicher, HfG-Archiv / Museum Ulm. © Florian Aicher, Rotis.

Plakat für den Ostermarsch 1983, Otl Aicher, HfG-Archiv / Museum Ulm. © Florian Aicher, Rotis.

Plakat für eine Versammlung der Friedensbewegung in Stuttgart, 22. Oktober 1983, Otl Aicher, HfG-Archiv / Museum Ulm. © Florian Aicher, Rotis.

Geburtstagsausstellung „Protest! gestalten: Von Otl Aicher bis heute“ im Ulmer HfG-Archiv. © Oleg Kuchar, HfG-Archiv / Museum Ulm.

Geburtstagsausstellung „Protest! gestalten: Von Otl Aicher bis heute“ im Ulmer HfG-Archiv. © Oleg Kuchar, HfG-Archiv / Museum Ulm.

Aicher, Ulm und die Kulturgeschichte Deutschlands

Aicher zum hundertsten Geburtstag, in der Pose der Entschlossenheit demonstrierenden verschränkten Arme, beeindruckt noch heute. Albert Einstein, in Ulm kein Unbekannter, antwortete auf die Frage nach möglichen Gründen für seine besondere theoretische Begabung, es sei ihm selbst nicht klar, aber er sei halt als Erwachsener ein Kind geblieben. Die Phantasie des Kleinkindalters habe er sich erhalten und in die Schlussprozesse reifen kognitiven Denkens übersetzen können. Einsteins Selbstbeschreibung folgend darf man sich Aicher als jemanden vorstellen, der ein Jugendlicher geblieben ist, der die Brücken zu einer grenzenlosen juvenilen Neugier, zu einer Gestaltungspassion nie abgebaut hat. Mehr noch, er hat den deprimierenden Erfahrungen seiner Generation das Material für eine nachhaltige und umfassende Initiative der Erneuerung entnommen.

Paradaoxerweise nimmt das Design, die Weihe der Oberfläche, gerade nicht ihren Lauf von den für die deutsche Kulturgeschichte prägenden Milieus des antiautoritäten Protestantismus, vielmehr von der Peripherie her, aus dem Milieu eines individualistisch ausgerichteten Katholizismus.

In dieser Deutungslinie wäre Aichers Geschichte zu lesen als eine Biografie, die die Dominanz des Protestantismus im Selbstbild der Deutschen aufschlussreich zu ergänzen vermag. Die Bündelung von Ideen, die mit seinem Namen verbunden sind, wäre in eine Reihe zu stellen mit Person und Werk von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Martin Heidegger oder Kurt Flasch, Mittelalterforscher und Religionsphilosoph aus Mainz. Otl Aicher, das bedeutet die Weihe der Oberfläche, mehr Schein als Sein, der exzentrische Abschied vom bürgerlichen Selbstverständnis. Die genannten Dimensionen bilden das Nadelöhr, durch das die Innovationsidee, die mit seinem Namen verbunden ist, hindurch muss, obwohl – vermutlich besser: weil – sie vom Schuldgefühl angeschattet ist.16

Otl Aicher bleibt ein Rätsel, je größer der Abstand zu den Weichenstellungen seines intellektuellen Werdegangs, zu den affektiven Turbulenzen seiner privaten Lebensführung, je mehr an biografischem Material zugänglich wird, desto rätselhafter wird diese wahrhaftig epochale widersprüchliche Einheit von Rebellion und Design, von Nonkonformität und Heilung. Vielleicht hat er das gemeint, wenn er von sich in der für ihn typischen Selbstüberschätzung als protestantisch und katholisch zugleich gesprochen hat.

Drei Schlussfolgerungen sollen das biografische Exposé zu Otl Aicher abschließen. Sie greifen eine womöglich erst in jüngster Zeit sich aufdrängende kulturgeschichtliche Kontextuierung auf. Dazu gehört, darauf aufmerksam zu machen, dass in Otl Aicher weitaus mehr als ein Virtuose des Piktogramms zu würdigen ist: Mythen erzählen bekanntlich von Strafen der Götter. Götter strafen mit Repetition. Repetition meint Wiederholungszwang, man kommt nicht raus, es gibt keine Entwicklung. In dreifacher Hinsicht empfiehlt es sich, von kognitiv wie moralisch belastenden Mythen Abstand zu nehmen.

Erstens: Der Blick auf Aichers Biografie sensibilisiert das deutsche Kollektivgedächtnis an einer Stelle, die deutlicher ins Bewusstsein zu heben wäre. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist bestimmt durch eine ausgeprägte Generationsfragmentierung, eine, die weder in Helmuth Schelskys „skeptischer Generation“ noch in den Generationsstudien von Heinz Bude angemessen erfasst ist. Wann jemand als Soldat rekrutiert wird, wie alt man ist bei Eintritt in die Hitlerjugend, wie alt man ist, als die Nachkriegszeit einen Optionenraum möglicher Gestaltung öffnet, das spielt für das Verhältnis von Generationslage und Generationsbewusstsein eine bedeutende Rolle. Entsprechend ist die Art und Weise, wie die Zivilisationsbrüche der deutschen Geschichte verarbeitet werden, höchst unterschiedlich. Man könnte somit von Ulm aus eine Formel wagen: Aicher korrigiert das Selbstgefühl der 68er. Schaut man auf die Themenvielfalt im Prozess seiner geistigen Formung, schaut man auf die Experimentierfreude im Umgang mit Triebwünschen und dem Aufkeimen affektiver Strebungen, so scheint die These nicht übertrieben, wonach hier in Ulm, um Ulm und um Ulm ein Achtundsechzig vor „68“ entstanden sei. Es muss hier nicht wiederholt werden und ein Blick in den Veranstaltungskalender der legendären Ulmer Volkshochschule (vh) bestätigt das: An der vh und wenig später an der HfG traf sich seinerzeit sich das „Who is who“ eines aufgeklärten Deutschlands. „wie andere von willy forst, stefan george und zarah leander sprachen, sprachen wir von duns scotus, thomas von aquin und wilhelm von ockham“, so hört sich der Innovationsstolz bei Otl Aicher an.17

Zweitens: Aicher repräsentiert – ähnlich Beuys, wie Heidegger, wie der Mittelalterforscher Kurt Flasch – den um Authentizität bemühten katholischen Intellektuellen, der es schwer hat, sich im dominant bildungsprotestantischen Deutschland Gehör zu verschaffen. Die Genannten wären kulturgeschichtlich ins Zentrum zu rücken als Vertreter eines entwicklungsoffenen aufgeklärten Katholizismus, mit ausgesprochen divergierenden Ergebnissen, hingegen eine dringende Ergänzung zur ästhetisierend verspielten Katholizismus-Deutung des Schriftstellers Martin Mosebach.

Drittens: Das Aicher-Jahr wäre Anlass, den deutschen Widerstand neu zu schreiben. Erst in jüngster Zeit und allmählich wurde ins deutsche Kollektivgedächtnis aufgenommen, dass es gegen Hitler nicht nur den 20. Juli gegeben hat, vielmehr die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, Georg Elser und andere. Die Geschichte Otl Aichers könnte Anlass sein, den sehr spät begonnenen Abschied von einem lange Zeit expliziten und immer noch impliziten Ranking des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus zu beschleunigen. Nicht mehr der 20. Juli als der wertmäßig im Glanz des Noblen, der staatstragenden Eliten, stehende Widerstand, sondern mit gleichem Rang der Handwerker-Protest eines Georg Elsers, und gleichermaßen die „Weiße Rose“, mit Otl Aicher als einem der Schlüsselfiguren einer dritten Form des schicksalhaften Scheiterns. Gegen die militarisierte Romantik des Nationalsozialismus entfaltet sich unter seiner Initiative die entmilitarisierte Romantik des demokratischen Aufbruchs – eine Exzentrizität des guten Menschen, des Wahren, guten Schönen, das sich anders als bisher geschehen in die Geschichte von Konformität und Nonkonformität zum Nationalsozialismus einschreibt.

Das wären drei Kerzen, die auf dem Geburtstagskuchen aufzustecken wären – mit einer Leuchtkraft, als wären es einhundert. Otl Aicher, der Rebell, ein homme der Revolte und der Verzweiflung, ein deutscher Camus – einer, der das Zeug hätte, die Semantik des Querdenkens aus der versponnenen Idiosynkrasie des Dagegenseins zu lösen und zu einem Ehrentitel werden zu lassen.

Allert-Erfolgstitel: Der Soziologe liest die Gesten aus dem Restaurant, die demütige Raute der Angela Merkel, das magische Gemisch des Latte Macchiato als Splitter des Sozialen.

Tilman Allert © Christian Engels / S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Soziologie en passant: Gruß aus der Küche. Buchcover-Entwürfe: © Sonja Steven / hißmann, heilmann, Hamburg. Umschlagabbildungen: F.W. Bernstein.

Tilman Allert © Christian Engels / S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Tilman Allert, geboren 1947, ist Sozialwissenschaftler, Autor und emeritierter Professor für Soziologie und Sozialpsychologie. Er studierte Soziologie an den Universitäten Freiburg, Tübingen und Frankfurt am Main. Nach seiner Promotion 1981 wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen und habilitierte sich 1994. Im Jahr 2000 wurde er als Professor an die Frankfurter Goethe-Universität berufen. Zudem lehrte er als Gastdozent an den Universitäten von Tiflis und Eriwan sowie an der International Psychoanalytical University in Berlin. Allert schreibt regelmäßig unter anderem für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die „Neue Zürcher Zeitung“, „Brand Eins“ und „Die Welt“. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen die viel beachteten Titel „Der deutsche Gruß“, „Latte Macchiato“ und „Gruß aus der Küche“.

Für die Website „otl aicher 100“ hat Tilman Allert seine Rede leicht überarbeitet. Eine Druckversion findet sich im Katalog zur Ausstellung: „Protest! gestalten“, unter dem Titel „Otl Aicher und das Abenteuer der Oberfläche“. Der Katalog wurde herausgegeben vom Museum Ulm, 2022. Die gebundene Ausgabe umfasst 260 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. ISBN: 978-3-928738-68-2. Siehe auch: https://museumulm.de/museum/museumsshop/

Anmerkungen

1.Die Festveranstaltung zu Otl Aichers hundertstem Geburtstag fand am 13. Mai 2022 in der ehemaligen Mensa der legendären Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG) statt.

2. Die Intellektualgestalt von Gesellschaften sollte immer in zumindest zwei Koordinaten betrachtet werden. Die Inhalte und die Entwürfe sowie die Problemlagen, auf die solche Entwürfe sich einlassen, macht ihre auffälligste und am Ende auch die eigentliche Dimension aus. In die Dynamik ihrer Entfaltung wirkt aber die Motivationsgeschichte der Ausbildung bewussten Lebens mächtig hinein, die in anderen Rhythmen und Brüchen abläuft. Sie ist mit den Wandlungen in der Erfahrungsart und Weltbeziehung innerhalb von Familie und Kindheit aufs engste verbunden (vgl. Dieter Henrich: Philosophie. Eine Generation im Abgang. In Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, November 1996, 50. Jahrgang, Heft 572, pp 1055-1063.)

3. Seine Schwester Hedwig erinnert sich: „Ich selber hatte immer das Gefühl, der brütet was aus Und tatsächlich, nach ein paar Tagen kam er von selbst wieder mit einer neuen Idee.“ Hedwig Maeser im Interview: „Tief gläubig, aber nicht so katholisch“. In: Christine Abele-Aicher(Hrsg.): Die sanfte Gewalt. Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl, Süddeutsche Verlagsgesellschaft Ulm im Jan Thorbecke Verlag, 2012, S. 154.

4. Aichers programmatische Schrift „analog und digital“ (1991) liefert dazu einen eindrucksvollen Beleg. Aicher lässt hierin in diffuser bis unsystematischer Reihenfolge die Favoriten seiner Lektüreerfahrung Revue passieren. Faszinierend zu lesen, wie Ludwig Wittgensteins Satz „Denk nicht, sondern schau“ zu einem Leitmotiv seines Selbstverständnisses wird, zur „Tuchfühlung mit den Dingen“ (Otl Aicher: analog und digital, Ernst & Sohn, Berlin 1991, S. 90 ff.).

5. Im Katholizismus, so argumentiert der Religionshistoriker Ernst Troeltsch (1865-1923) sei der Gläubige von der methodischen Lebensführung insofern befreit, als sie nun „ihren verschiedenen sozialen Funktionen nach der Lex naturae nachgeht und nur von Fall zu Fall oder nur eingeschränkt dem asketischen Ideal unterworfen wird.“ (Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Oldenbourg München 1911, S. 11.) Vgl.: Christoph Weber: Der deutsche Katholizismus und die Herausforderung des protestantischen Bildungsanspruchs, in: Reinhart Koselleck (Hrsg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II, Bildungsgüter und Bildungswissen, Klett Verlag Stuttgart, 1990, S. 139-167. Zudem: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Mohr Verlag Tübingen 1980.

6. Carl Muth (1867-1944) war ein katholischer Intellektueller, der Kirche und Kultur zu versöhnen suchte. Die von ihm gegründete Zeitschrift „Hochland“ wurde zu einem Zentrum des Bildungskatholizismus. Muth imponierte die Freundesgruppe um Hans Scholl und Otl Aicher aufgrund seiner engagierten Gegnerschaft zum aufziehenden Nationalsozialismus. Als wichtiger geistiger Mentor wäre der Religionsphilosoph Romano Guardini zu nennen, in der nach dem Krieg von Inge Scholl gegründeten Volkshochschule Ulm ein prominenter Vortragsgast.

7. Otl Aicher: innenseiten des kriegs, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1985, S. 52.

8. Willi Habermann (19222001), schwäbischer Mundartdichter, war als Jugendlicher in der katholischen Jugendbewegung aktiv und pflegte Freundschaften mit Otl Aicher und den Geschwistern Scholl.

9. Otl Aicher an Willi Habermann, Brief vom 7. Dezember 1942, HfG Archiv Ulm. Vergl. Hedwig Maeser im Interview: „Tief gläubig, aber nicht so katholisch“, a.a.O.

10. Kühn mutet von daher der Versuch an, seine philosophischen Notizen, Anmerkungen und Einfälle,nachträglich zum geistigen Vermächtnis eines „Denkers“ zu stilisieren, wie es bei Wilhelm Vossenkuhl geschieht (siehe Vossenkuhl: Denken und Machen. In Winfried Nerdinger, Wilhelm Vossenkuhl (Hrsg.), Otl Aicher. Designer. Typograf. Denker, München u.a., Seiten 10-20). Verschiedentlich stellt Otl Aicher die fragmentierte Logik seines Denkens heraus: „Mein Denken war nicht analytisch.“

11. Otl Aicher: innenseiten des kriegs, a.a.O., S. 52.

12. Aicher schrieb 1942 eine 25-seitige Betrachtung über die Sonette Michelangelo Buonarottis. Das unveröffentlichte Typoskript findet sich im HfG-Archiv/Museum Ulm. Zur Bedeutung Michelangelos für Aicher vgl. sein Buch innenseiten des kriegs, S. 41f. Aicher schreibt dort: „trotzdem hat im kriegsgerät die gestaltung eine freiheit gewonnen, ist zu neuen objekten gelangt, mit neuen materialien, nach neuen fertigungskriterien, die eine ästhetik der richtigkeit entstehen ließ anstelle eines erscheinungsbildes kunstgeschichtlicher bindung. Diese freiheit war eine wohltat.“ (S. 136).

13. Otl Aicher: analog und digital, a.a.O., S. 56 ff.

14. Theodor W. Adorno: Notizen zu Philosophie und Gesellschaft 1943-1969. In: Frankfurter Adorno-Blätter VIII, Verlag edition text+kritik, Richard Boorberg Verlag, München 2003, S. 9-40.

15. Siehe hierzu die instruktive Arbeit von Christiane Wachsmann: Vom Bauhaus beflügelt. Menschen und Ideen an der Hochschule für Gestaltung Ulm, Av Edition Stuttgart, 2018. Sowie grundlegend zu den politischen Entscheidungen im Rahmen der Institutionalisierung als Hochschule: René Spitz, Der Blick hinter den Vordergrund. Die politische Geschichte der Hochschule für Gestaltung Ulm (1953-1968) Edition Axel Menges, Stuttgart/London, 2002.

16. Zur Flugblattaktion der Geschwister Hans und Sophie Scholl, Auslöser einer dynamischen Konfliktivität von Schuldgefühl und Gestaltungsimpuls, siehe die ausführliche historische Rekonstruktion von Hans Günter Hockerts: Todesmut und Lebenswille. Die Flugblattaktion der Geschwister Scholl am 18. Februar 1943, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 70 Jg., H.3, 2022, S. 447-474. Zudem: Barbara Schüler: Im Geiste der Ermordeten. Die „weiße Rose“ in der Nachkriegszeit, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2000. Die Ehebeziehung Otl Aichers mit Inge Scholl, der älteren Schwester von Sophie Scholl, erfährt durch die hohe wechselseitige normative Verpflichtung unerschöpfliche Impulse zur moralischen wie umfassenden ästhetischen Erneuerung des eigenen Landes.

17. Otl Aicher: innenseiten des kriegs, a.a.O.