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Ein Bildnis machen

Erstmals der Öffentlichkeit zugänglich: Die Büste, die Otl Aicher von sich selbst fertigte

Cover ARCH+, April 1989. Foto: Tim Rautert bearbeitet von Dieter Masuhr.

Auf verschlungene Wege gerät, wer verfolgt, wie Aicher sich der Welt bemächtigt: Florian Aicher machte sich auf die Suche nach der lange verschollenen Aicher-Büste – und wurde fündig.

Zum ersten Mal bekam ich sie in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zu Gesicht. Meine Mutter nahm mich mit in Otl Aichers mir bis dato unbekanntes Refugium in München: eine kleine Wohnung in Rufweite der Akademie, von der so gut wie niemand wusste. Und da stand sie: die fertige Büste, ein Selbstportrait. Das erste Werk plastischer Kunst aus seinen Händen, das mir vor Augen kam.

Kunst?

Das Erstaunen war nicht gering, hatte er doch in unzähligen Gesprächen auseinandergesetzt, dass die Kunst tot sei, dass er sie seit seinem kurzen Studium 1946 an der Münchner Akademie verworfen habe. „kunst ist das nicht verstehbare“1, hatte er erst wenige Jahre zuvor erklärt und vierzig Jahre davor, sie sei „ranzig“2 geworden.

Ein halbes Jahr nach der Hinrichtung seiner Freunde Sophie und Hans Scholl hatte er beschlossen, Bildhauerei zu studieren3 – die plastischste der Künste (lässt man Architektur außen vor). Umgehend widmete er dem Urbild des Bildhauers, Michelangelo, seitenlange Erörterungen. Nach kurzer Zeit an der Akademie befand er freilich, dort nichts mehr lernen zu können. Er habe bald, so erzählte er, seinen eigenen Stil gefunden – die Bearbeitung des noch feuchten Tons mit einer Dachlatte.

Doch welch umstürzende Ereignisse seit dem Entschluss von 1943! Das NS-Regime ist beseitigt, seine Geburtsstadt liegt in Schutt und Asche, aus der Tabula rasa soll Neues entstehen. Mit Inge Scholl4 und Freunden prägt er das neue Ulm, gestaltet Plakate für die Volkshochschule. Nun gilt: „Schönheit in der gepflegten Sachlichkeit und Durchsichtigkeit der Zwecke“5. Im Hintergrund bleibt das Idol: „der motor, die erregung seiner freude, die düfte der zeit und der welt, wie sie heute ist.“6

Cover ARCH+, April 1989. Foto: Tim Rautert bearbeitet von Dieter Masuhr.

Otl Aicher, Selbstportrait. Skizze aus: otl aicher schreiben und widersprechen, Berlin 1993, S. 137.

Portrait Otl Aicher von Karsten de Riese. © Bayerische Staatsbibliothek München / Bildarchiv / Karsten de Riese

Otl Aicher, Selbstportrait. Skizze aus: otl aicher schreiben und widersprechen, Berlin 1993, S. 137.

Verbleib?

Mittelpunkt der zweiten Hälfte seines Schaffenslebens bildet der Ort Rotis, wo er seinen systematischen Gestaltungsansatz demonstriert7. Abseits dieses Kabinettstücks, hinter zunehmend dichterer Hecke, liegt ein Garten, später um einen „Geräteschuppen“ ergänzt. Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich ihn entdeckte und dann fand: Die Hälfte barg Gartengerät, die andere Hälfte ein klandestines Atelier, wo er an Büsten von Sophie und Hans Scholl arbeitete.

Kurz vor seinem tödlichen Unfall waren die beiden Köpfe in Ton fertig.8 Nach dem Tod wurde die Kunstgießerei Niedermeier am Gollierplatz in München mit je zwei Abgüssen beauftragt. Eine Fassung ging im Zuge der Überlassung seines Nachlasses an die Stadt Ulm, die andere gelangte in den privaten Bestand von Inge Aicher-Scholl – ebenso wie die Büste ihres Mannes nach Auflösung der Münchner Adresse.

Niemand konnte etwas zum Verbleib der Büste sagen – weder das HfG-Archiv noch die Familie.

Bei den Recherchen zur Website „Otl Aicher 100“ kam die Rede auch auf die Otl-Aicher-Büste. Doch niemand konnte zum Verbleib etwas sagen – weder das HfG-Archiv noch die Familie. Eines Tages dehnte ich die Recherche auf den Nachlass von Inge Aicher-Scholl aus und erhielt vom Institut für Zeitgeschichte (IfZ) die Auskunft, es existiere dort eine dritte Büste. „Alexander Klotz, der den Bestand maßgeblich erschlossen hat, nimmt mit hoher Wahrscheinlichkeit an, dass es sich um Robert Scholl handelt. Falls Sie anderer Meinung sind, sind wir für Hinweise natürlich dankbar. Die Büste war, wie auch die beiden anderen Büsten, Teil des dem IfZ 2002 von Manuel Aicher übereigneten Nachlass- und Sammlungsbestandes ‚Weiße Rose/Inge Aicher-Scholl‘ (heute Bestand ED 474).“9 Großzügig räumte das Institut dem Fotografen Stefan Ibele und mir einen Termin ein und stellte Räumlichkeiten zur Verfügung, um die Büste abzulichten. Damit wird sie erstmals der Öffentlichkeit zugänglich.

Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Realistisch?

Die Identifizierung der Büste fiel nicht schwer. Sie gibt ihren Schöpfer fast realistisch wieder. Mehr noch: Sie zeigt ihn in einer Pose, die er in skizzierten Selbstportraits10 wählt und die man von Fotografien der 1980er Jahre11 kennt.

Einige dieser Fotos lagen dem Kollegen und Lehrer der Fotografie, Thomas Lüttge, vor. Er bemerkt: „Der gesamte Ausdruck von Kopfhaltung, Mundpartie und Gestik der Hände sind voller Kraft und deutlicher Formensprache. Nur die Augen bleiben fern gerichtet. Bedeutsam ist, was er mit dem Mund und der gesamten Mundpartie eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. Jedes Mal anders und neu erscheinen dort alle Arten von menschlicher Vitalkraft: Mut, Kühnheit, Wille, Anspruch, Ausgelassenheit und Durchsetzungskraft, auch Hybris, Eitelkeit, Humor und Stolz, dann auch Sinnlichkeit, Begeisterung, Verlegenheit, Genuss und vieles mehr. Das Verhältnis von unterer zu oberer Gesichtspartie sagt etwas über die Bedingungen eines Menschen aus. In den Bildern von Otl Aicher erlebe ich zwischen oberem und unterem Bereich ein besonderes Spannungsfeld, einen Moment des Ausgleichs seiner widersprüchlichen Kräfte, auch als Tragik seines Lebens.“12

Vergeistigung, verdeutlicht durch die geschlossenen Augen, und Machtbewusstsein, ausgedrückt durch das vorgereckte Kinn – ein merkwürdiger Kontrast, der die Bildnisse der 1980er Jahre durchzieht. Wer Otl Aicher in diesen Jahren erlebt hat, kennt ihn meist anders. Doch für ihn zählt: Die Welt als Entwurf.13 Er skizziert, modelliert sich als Macher – entrückt, entschlossen, leidgeprüft. Bemerkenswert, wie sehr diese Pose sogar in manches Bild des „Abbild-Mediums“ Fotografie Eingang findet. Und doch: Diese Ikone ist Fragment. Hans C. Conrads Fotos der 1950er Jahre etwa zeigen es.14

Entrückt, entschlossen, leidgeprüft: wie Aicher sich selbst sah. Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Büste Selbstportrait Otl Aicher, Bronze; Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Büste Selbstportrait Otl Aicher, Bronze; Foto: Stefan Ibele, Rotis, Februar 2023; Standort Institut für Zeitgeschichte, München.

Florian Aicher, *1954 in Ulm, ältester Sohn von Otl Aicher, Studium der Architektur an der Staatsbauschule Stuttgart, Praktikum in Buffalo/USA, dann drei Jahre Berufspraxis bei Werner Wirsing, München. Ab 1981 selbständig; neben Planung im Bereich Hochbau, Entwurf von Möbeln, Lehrtätigkeit an Hochschulen in Deutschland und Österreich; zuletzt an der Fachhochschule Kärnten. Journalistische Tätigkeit. Veröffentlichungen in internationalen Zeitschriften und Büchern, zahlreiche Publikationen zu den Bedingungen für das Gelingen von Architektur. Lebt seit 2005 in Rotis, Allgäu.

Anmerkungen

  1. Otl Aicher: die welt als entwurf, Berlin 1991; zitiert nach: Chup Friemert, Schreiben als Sehnsucht und Leidenschaft, www.otlaicher.de
  2. Otl Aicher: Studio Null, Beethoven wird von einem Lastauto weggefahren, unveröffentlichtes Typoskript, 1948, HfG AR, Ai AZ 40
  3. Robert Zoske: Voller Gefühl gegen Gefühlsmenschen, www.otlaicher.de
  4. Dagmar Engels: Pädagogin, Autorin, Aktivistin, www.otlaicher.de
  5. Otl Aicher: Studio Null, Die befreite Stadt, ca. 1947, HfG-AR Ai AZ 10
  6. Otl Aicher: Studio Null: Beethoven wird von einem Lastauto weggefahren, a.a.O.
  7. Andreas Schwarting: Bauen: Eine Art dreidimensionale Typographie?, www.otlaicher.de
  8. Katharina Kurz: 10 x 10, 10 × 10 × Aicher, www.otlaicher.de
  9. E-Mail von Esther-Julia Howell, Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München, an Florian Aicher, 08.02.2023
  10. Otl Aicher: schreiben und widersprechen, Berlin 1993, S. 137
  11. siehe Tim Rautert: Cover ARCH+ 98, 1989 und Karsten de Riese: Fotos von Aicher
  12. Thomas Lüttge: unveröffentl. Manuskript, 2023
  13. Otl Aicher: die welt als entwurf, Berlin 1991
  14. Hans G. Conrad: aicher in ulm, herausgegeben von René Spitz, Köln 2023