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„Man muss Gulasch und Spaghetti nicht interpolieren”

Befragt: Erik Spiekermann, Schriftgestalter, Autor und Aicher-Kritiker

Foto: Norman Posselt. © Erik Spiekermann

Erik Spiekermann gehört zu den weltweit renommiertesten Typografen und Corporate-Designern. In der Vergangenheit hat er Otl Aichers Schriftfamilie Rotis heftig kritisiert. Wie schätzt er heute das Werk des Ulmer Gestalters ein?

Erik, es ist bekannt, dass du ein vehementer Kritiker von Aichers Schriftfamilie Rotis bist. Du hast sie sogar mal in einem Tweet eine „typografische Katastrophe” genannt, an anderer Stelle eine „Kopfgeburt”. Was genau sind deine Kritikpunkte?

Ich stehe übrigens mit meiner Kritik nicht allein, zahlreiche Schriftentwerfer, etwa Günter Gerhard Lange oder Matthew Carter, sahen beziehungsweise sehen die Sache ähnlich wie ich: Die Rotis besteht aus einer Ansammlung von teilweise sehr schönen Buchstaben, aber es ist keine Schrift. Daran zeigt sich einfach Aichers mangelnde Erfahrung. Buchstaben dürfen nicht eitel sein. Der Theorie von Aicher, dass zum Beispiel der Schwung beim kleinen e zum nächsten Buchstaben überleitet, kann ich nicht folgen, weil wir keine einzelnen Buchstaben lesen, sondern Buchstabengruppen erfassen. Der Begriff „Überleitung” impliziert ja, dass man mit dem Auge an der Kante eines Buchstabens entlangfährt – wie mit einem Fahrrad. Und man müsste damit sozusagen über den nächsten Bordstein springen. Eine völlig verkopfte Idee – deshalb „Kopfgeburt” –, die mit der Realität nichts zu tun hat. Als Schriftgestalter braucht man aber eben mangelnde Eitelkeit, um gute Lesbarkeit herzustellen. Man darf sich nicht derart persönlich einbringen. Als Gestalter muss man die Rotis entweder wahnsinnig spationieren oder wahnsinnig eng setzen; in manchen Größen funktioniert sie ganz schön, in anderen überhaupt nicht. Manche Buchstaben wie das c und das e sind grottenschlecht.

Foto: Dennis Letbetter

Die Rotis Semi Serif nanntest du die „schrecklichste Variante” – warum?

Die Semi Serif kann man nur einen Bastard nennen. So als trüge man Hosenträger und Gürtel gleichzeitig, weil man sich nicht richtig entscheiden kann. Eine Geburt des Computers, weil man plötzlich interpolieren konnte. Man muss aber Gulasch und Spaghetti nicht interpolieren. Da kommt kein Essen heraus. Und bei der Rotis Semi Serif verhält sich das ähnlich.

Gibt es überhaupt Anwendungen der Rotis, die du gelten lässt? Wo sie für dich funktioniert?

Man kann mit der Rotis natürlich gute Logos bauen, was Baumann + Baumann aus Schwäbisch Gmünd gezeigt haben. Man wählt dann am besten, damit die Rotis funktioniert, die Aicherschen Pastellfarben als Hintergrund. Dieses typische fliederfarbene Blau hieß in Aichers Büro intern „Flau”, hat mir sein Mitarbeiter Rolf Müller mal erzählt. (lacht) Es darf also kein so starker Kontrast entstehen – und man braucht viel Platz, viel Umraum. Das Problem bei den Baumanns ist: Die haben irgendwann nur noch mit der Rotis gearbeitet. Aber sie wussten daraus ganz feine Wortbilder zu bauen, weil sie die Spationierung hingekriegt und die richtigen Größen gewählt haben. Das ging aber nur, weil sie sich über Jahre ganz und gar auf die Rotis eingestellt haben. Jeder Buchstabe wird dann zum Monument. Ich habe übrigens den halb-ironischen Wunsch, dass die Rotis auf meinem Grabstein verwendet wird, denn meine Freunde würden die Ironie erkennen und an meinem Grab lachen. Das hätte schon was. (lacht)

„Aicher war nach dem Krieg der große Aufräumer, Sortierer und Raster-Mann.“

Ach, das hat noch Zeit. Wer so viel Rennrad fährt wie du, muss sich mit Typo-Grabsteinwitzen noch gedulden. Aber zurück zu Aicher. Er hat die Rotis 1988 veröffentlicht. Ist sie für dich ein typisches Kind der 1980er? Spiegelt sie rückblickend vielleicht sogar den Zeitgeist jener Jahre?

Die Rotis hat dieses Hybride, das in der Popmusik der Achtziger von Bands wie Spandau Ballet und Leuten wie Boy George oder auch Bowie verkörpert wurde. Grenzen lösten sich auf. Die Achtziger waren auch der Anfang der Digitalisierung – und die Rotis ist ja auf Ikarus-Computern entstanden. Ihre Perfektion kommt auch daher, dass ihre Kurven mit dem Rechner überarbeitet wurden. Ihre Glätte passte in die Zeit. Aicher war nie rustikal, deswegen waren seine Arbeiten immer von höchster Perfektion. Daher hat er schon bei den Münchener Olympischen Sommerspielen die Univers genommen, die – wie mir ihr Schöpfer Adrian Frutiger selber sagte – eine sehr kalte Schrift ist. Aicher war nach dem Krieg der große Aufräumer, Sortierer und Raster-Mann.

Die Plakate der Olympiade hatten ja durchaus etwas von Pop Art-Motiven – aber durch die sachliche, kühle Eleganz der Univers wurde ein Kontrapunkt geschaffen; ein Gegengewicht zu der knalligen Farbigkeit von Fahnen, Postern und Uniformen.

Das stimmt. Die den Plakaten zugrunde liegenden Fotos wurden ja in der Dunkelkammer im Solarisationsverfahren verfremdet und vereinfacht. Mehr hat man damals technisch nicht machen können. Aber es führte eben zu diesen wunderbar poppigen Motiven, die alle in den Corporate-Farben gehalten waren. Aicher hatte eben gute Leute um sich, die ein Gefühl für Ästhetik hatten. Und das Schöne an den Plakaten war, dass so wenig darauf stand. Heute wären sie vollgepflastert mit blöden Slogans, Sponsoren-Logos und überflüssigem Text. Und es würden beim Design zu viele Leute hineinreden. Für alles gibt es heute Beauftragte.

Wie siehst du Aichers Piktogramme? Du hattest ja etwa für den Flughafen Düsseldorf auch mit dem Thema zu tun.

Lieber sind mir die holländischen von Gerd Arntz. Die sind emotionaler, weil sie handgezeichnet und in Linol geschnitten wurden. Und das merkt man. Sie sind noch nicht so geometrisiert und reduziert. Aichers Piktogramm-Raster war notwendig, aber bei manchen Zeichen zeigt sich auch die Limitierung. Wenn man genau hinguckt, finden sich viele Ausnahmen vom Raster. Das ist auch richtig so, um Details besser und schneller verständlich zu machen. Für den Düsseldorfer Flughafen und für die BVG haben wir die Piktogramme Aichers zitiert – nicht nur, weil sie gut sind, sondern auch weil sie bereits „gelernt” sind. Wenn man den Vergleich zum Beispiel mit Lillehammer anstellt – mit den Steinzeit-Männchen, die für die dortigen Olympischen Spiele 1994 entworfen wurden und die alle aussahen wie Giacometti-Figuren – dann zeigt sich auch wieder die Qualität der Aicherschen Piktogramme.

Screenshot Erik Spiekermann

Das Regelbuch für das Erscheinungsbild der Münchener Spiele wurde 2019 wieder aufgelegt – und dafür hast du das Vorwort geschrieben. Darin heißt es: „München 1972 sollten die „Heiteren Spiele“ werden. In diesen vom Original gescannten Band erleben wir, wie sich Farben, Formen, Schriften und Abbildungen zu diesem heiteren Bild ergänzen. Undeutsche Leichtigkeit ist hier gepaart mit der Präzision, wie sie von uns erwartet wurde und wird – eine seltene Kombination, damals wie heute.” Hat Aichers Regelwerk für die Olympiade deine Arbeit beeinflusst?

Wir haben genau solche Handbücher gemacht. Für Audi oder Volkswagen. Manuals als Aktenordner gab es bis vor ein paar Jahren noch. Nur standen die am Ende oft bei den falschen Leuten im Regal. Bei den Vorstandsleuten oder bei den Marketingleuten statt bei den Designern. Das läuft heute natürlich alles digital. Aber als Handlungsanweisung waren diese Handbücher oft viel zu kompliziert. Sie waren eher eine Dokumentation dessen, was man gemacht hatte. In dem Moment, wo ein Corporate Design in einem Ordner angekommen ist, ist es tot. Dann muss man wieder von vorne anfangen.

Nochmal ein anderes Thema, das alt und gleichzeitig sehr aktuell ist: Aicher propagierte die Kleinschreibung – mit Verweis darauf, dass die Verwendung von Großbuchstaben etwas Autoritäres besitzen würde und Hierarchien manifestiere. Wie stehst du zur Kleinschreibung, die Aicher ja auch in seinem Buch „typographie” angewandt hat?

In meinen E-Mails schreibe ich auch alles klein – bis auf die Namen und die Satzanfänge. In Aichers „typographie”-Buch, das ja zweisprachig angelegt ist, habe ich nur den englischen Teil gelesen, weil beim deutschen auch die Satzanfänge kleingeschrieben werden. Da muss man jeden Satz zweimal lesen. Der Punkt bei der Rotis am Satzende ist klein und man merkt daher gar nicht, dass schon wieder ein neuer Satz begonnen hat. Für lange Texte eignet sich die durchgehende Kleinschreibung überhaupt nicht. Die Amerikaner streiten heute immer noch um den doppelten Leerschlag nach einem Punkt. Und die Gleichstellung von Großschreibung mit Hierarchien – das ist ein typischer Aicher-Satz; und weil man Aicher ist, glauben die Leute einem das. Es stimmt: Die Großschreibung fängt erst im Barock an – also zu einer Zeit, als geherrscht wurde. Da wurden die Namen der Herrscher großgeschrieben, weil keiner wusste, was Hauptwörter sind. Es gab ja keine festgelegte Grammatik bis ins 19. Jahrhundert und keine Rechtschreibung bis zu den Gebrüdern Grimm. Es mag also sein, dass historisch die Großschreibung ein Ausdruck von Autorität ist. Aber wenn, dann bin ich höchstens für eine gemäßigte Kleinschreibung. Das Bauhaus-Gerücht, dass Kleinschreibung Zeit sparen würde, war Blödsinn, der gut klang. Wieso kostet es mehr Zeit einen Großbuchstaben zu schreiben? Nicht beim Schreiben mit der Hand und beim Setzen auch nicht.

Und wie ist deine inhaltliche Einschätzung von Aichers „typographie”-Buch? Von heute aus gesehen?

Ich habe mir das Buch ganz früh gekauft als es herauskam und eine Besprechung darüber geschrieben – ich glaube für die Page. Aber zum Inhalt: Wie immer hatte Aicher über viele Dinge unheimlich gut nachgedacht. Er war ja kein Dekorateur – was vielen Grafikdesignern vorgeworfen wird – sondern wirklich ein Philosoph. Er hat viel über die Welt und wie wir mit ihr umgehen nachgedacht. Das Meiste davon finde ich großartig. Es ist aber mehr eine philosophische Abhandlung und kein klassisches Lehrbuch.

Du hast dich mehrfach dazu geäußert, wie die ideale Raumaufteilung in Designbüros aussehen sollte; wie das Layout in einem Großraumbüro das Miteinander bestimmt. Wie siehst du eigentlich Aichers Raum-Modell, das er in Rotis realisiert hat? Dort stehen ja heute noch die Gebäude, in denen die verschiedenen Teams getrennt voneinander arbeiteten – mitten im Allgäu, weit von der nächsten Großstadt entfernt.

Ich war leider nie da. Ich finde die Gegend wunderbar, aber das Konzept würde meiner Arbeitsweise völlig widersprechen. Wer Kommunikation macht, muss kommunizieren, sich dem Leben aussetzen. Die Energie, die in einem Raum entsteht, ist eine Potenz der einzelnen Energien. Natürlich braucht man Teams für ein Projekt, aber der Austausch ist eben wichtig – auch der mit Leuten aus anderen Teams. Diese Vermischung. Wenn ein Team zu viel Eigenverantwortung hat, dann hält es sich schnell für den Mittelpunkt der Erde. Bei MetaDesign arbeiteten wir auf verschiedenen Stockwerken. Schon das war ein Problem. Deswegen waren zum Beispiel die Raucherpausen so wichtig. Denn da kamen Leute aus verschiedenen Teams zusammen. Zunächst dachte ich, das Rauchen kostet uns enorm viel Geld und ist unproduktiv. Erst als ich mich mal dazugesellte verstand ich, dass man sich da Team-übergreifend verständigt, was sehr wertvoll ist.

Und worin siehst du Otl Aichers bleibende Verdienste?

Aicher war fraglos der wichtigste Grafiker nach dem Krieg und hat viel für die Wahrnehmung des Grafikdesigns in der Gesellschaft, auch außerhalb von Fachkreisen, getan. Beim Wort „Design” denken ja viele immer noch nur an Stühle, Lampen und Autos. Und seine Hinterlassenschaft, seine Nachwirkung bis heute, ist auch das Ergebnis der großartigen Leute, die bei ihm studiert oder die für ihn gearbeitet und sein Denken weitergetragen haben. Mit Florian Fischer, Heiner Jacob und Rolf Müller habe ich selbst gearbeitet. Und zum Beispiel Aichers Erscheinungsbild für die Lufthansa war ein wirklich großes Gestaltungssystem, das lange gehalten hat. Wenn man jetzt sieht, was daraus gemacht wurde, möchte man Aicher schon fast wiederhaben.

Erik Spiekermann, geboren 1947 in Stadthagen bei Hannover, ist typografischer Gestalter, Schriftentwerfer und Autor. 1979 gründete er in Berlin mit Florian Fischer und Dieter Heil die CI-Agentur MetaDesign, 2001 die Agentur United Designers Network mit Büros in Berlin, London und San Francisco. Ab 2007 firmierte die Agentur als SpiekermannPartners; seit Anfang 2009 heißt sie Edenspiekermann. Darüber hinaus lehrte Spiekermann als Professor an der UdK Berlin und als Honorarprofessor an der Hochschule für Künste Bremen. Einige Schriften von Spiekermann, so die ITC Officina (1990) und die FF Meta (1991), werden mittlerweile als moderne Klassiker gehandelt. Heute pendelt der vielfach ausgezeichnete Designer zwischen den Agentur- und Wohnorten Berlin, Amsterdam, London und San Francisco. In Berlin betreibt er seit 2013 die Buchdruckwerkstatt und Galerie p98a.
spiekermann.com