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Schreiben als Sehnsucht und Leidenschaft

Le Violon d'Ingres oder Ein Versuch, die Texte Otl Aichers zu verteidigen

Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese

Als Homme de Lettres hat er sich charakterisiert, als ein Mann der Schrift und des Wortes. 16 Bücher sind – mitunter posthum –  unter seinem Namen erschienen; autobiographische Schriften darunter, ebenso Lehrbücher, Bildbände und Aufsatzsammlungen. Mehr als hundert Bücher hat Aicher angeregt und in aller Regel auch selbst gestaltet. Das Büchermachen und Publizieren war Bestandteil seiner Designstrategie.

Das Schreiben war einsame Arbeit. Nachts. Am Schreibtisch. Über der Turbine. (Andreas Schwarz im Gespräch am 1. Juli 2022)

Entwerfer, besonders Architekten, liebten es immer schon zu schreiben. Sich öffentlich zu äußern gehörte zum sozialen Charakter oder zum Geschäft. Louis Sullivan, Adolf Loos, Le Corbusier, Hannes Meyer, Walter Gropius schrieben über ihr Metier, ihre Projekte oder über Gott und die Welt. Manchesmal wurden es Manifeste, von denen die nachfolgenden Generationen lernten und über die sie stritten. Otl Aicher kannte sie, hat sich auf sie bezogen und selbst gerne geschrieben. Schreiben war seine Sehnsucht und Leidenschaft, sein Traum, wie er in dem Dokumentarfilm von Peter Schubert „Otl Aicher, der Denker am Objekt“ 1991 bekennt: „Ich bin ein Homme de Lettres“. Aufgefasst hat er Schreiben als den bevorzugten Weg, sich seiner selbst oder eines Gegenstands gewahr zu werden. So entstanden „Die Küche zum Kochen. Das Ende einer Architekturdoktrin“ (1982), vier Bücher zum Greifen und zu Griffen (1987 bis 1995), eine Serie zum Licht (ab 1977), die „Kritik am Auto – Schwierige Verteidigung des Autos gegen seine Anbeter“ (1984). Über sich selbst nachzudenken, sich ihrer komplexen Realität klar zu werden, forderte er seinen Auftraggebern, also Unternehmen, ab. Publizieren, nicht als Werbeblatt oder schnelle Broschüre, sondern in Buchform, war ein Bestandteil seiner Gestaltungsstrategie.

In den Bildbänden „Flugbild Deutschland“ (1968) und „Im Flug über Europa“ (1980), beides Auftragsarbeiten für die Lufthansa, präsentiert er sich als Bildermacher mit dem Fotoapparat, so auch selbstbestimmt in „gehen in der wüste“ (1982). Als Beitrag zum eigenen Metier erschien der umfangreiche Bildband „typografie“ (1988). Eine Sonderstellung nehmen die Autobiografie „innenseiten des kriegs“ (1985) und das posthum 1993 publizierte „schreiben und widersprechen“ ein. Die beiden Bücher „analog und digital“ und „die welt als entwurf“ versammeln Artikel, Vorträge und Essays aus den Jahren 1978 bis 1991 zusammen mit zuvor nicht veröffentlichten Texten. Aus der beeindruckenden Literaturliste beziehe ich mich im Folgenden vor allem auf „die welt als entwurf“.

Aichers Bücher werden immer wieder neu aufgelegt, gelesen und scheinen seinem gestalterischen Werk gleichwertig. Seine Themen umkreisen Fragen der Gestaltung, des Entwerfens; seine Art des unakademischen Nachdenkens wirkt frisch, und so kommen vielen seine Texte entgegen, auch, weil die Sprache eher sachlich ist, Fremdwörter kaum vorkommen, die Grammatik ab und zu schwäbisch ist. So manche Formulierung ist der gesprochenen Sprache entlehnt.

„wer sich der komplexität des lebens nähert, hat wenig aussichten, wie die großen simplifikateure, die hochgeschossenen spezialisten im gedächtnis der menschheit zu verbleiben. wer seinen kopf zur letzten rationalität treibt oder sein herz zum empfindsamsten nerv, der hat aussicht, wahrgenommen zu werden, aber nicht, wer beides braucht. zur größe gehört die simplizität der methode. schon der architekt muß sich entweder auf die form spezialisert haben oder auf die technik, wenn er von sich reden machen will. das ist die wirkliche ursache für die unterlegenheit der frau in der geschichte. sie muß mit dem herz denken und mit dem kopf empfinden und entzieht sich damit unserem schema kultureller wertschätzung“ (die welt als entwurf, S. 69 f.)

Das ist eingängig, macht gleichwohl bei genauerer Betrachtung erhebliche Schwierigkeiten. Otl Aicher gibt für seine Ansichten keine Quellen an. Will er eine Aussage untermauern und befestigen, verweist er – stets ohne Vornamen zu nennen – gerne summarisch auf Persönlichkeiten, die Ehrfurcht einflößen. Am meisten auf Augustinus, Wilhelm von Ockham, Thomas von Aquin, Ludwig Wittgenstein, dann noch auf Friedrich Nietzsche, Platon oder Aristoteles. Und das selbst bei fachlich eng bestimmten Sachverhalten. Ansichten und Gedanken von Kolleginnen und Kollegen werden selten einbezogen. Oft entsteht der Eindruck, als habe er gerade gelesen, zum Beispiel im „Tractatus logico-philosophicus“ von Ludwig Wittgenstein, und als greife er einen Satz auf, einen Gedanken, den er dann umspinnt oder ausspinnt, ihn sich aneignet, über ihn nachdenkt, ihn dahinschwimmend auf eigenwillige Weise in seine Welt einbaut und dies dann, fast wie sich selbst diktierend, aufschreibt. Was Aicher da ausbreitet, und wie er es tut, ist verblüffend und will verblüffen.

„das leben muß nicht mehr sinn haben, wenn es erfolg haben kann. auch die philosophie macht heute einen großen bogen um die zwanghaftigkeit eines kalküls oder eines wertesystems, wo sich das pluralistische panorama von anschauungen für eine intellektualistische kommunikation à la blumenberg viel eher eignet. hat das leben einen sinn, fragt die philosophie und wird zunehmend skeptischer. also verliert auch das bauen seinen sinn“ (die welt als entwurf, S. 99)

In Aichers Texten folgt ein Aussagesatz auf einen anderen, die Texte sind in kurze Abschnitte gegliedert. Bei seinen zusammen oder besser: zueinander gestellten Sätzen ist die Frage, was der Gedanke in einen Satz mit dem folgenden Gedanken und was der je folgende mit dem vorausgegangenen zu tun hat, schwer zu beantworten. In theoretischen Texten ist die Verbindung in der Regel argumentierend. Aicher begründet nicht, er versucht eher durch schwallartige Assoziationsketten zu überreden und kommentiert, was ihm gerade der Fall ist, im Gestus einer Erziehungsschrift. Im Ton verkündend und zwingend. Die hintereinandergestellten Aussagesätze erfinden zweifelhafte oder erstaunliche Zusammenhänge, denen beizupflichten schwerfällt. Die Sätze beginnen mit „wer sich“, mit „man“ oder „das ist“ oder „so sah es“, die schon im Satzbau wahrnehmbare Rigidität öffnet das Geschriebene nicht für ein Mitdenken oder regt ein Nachdenken an. Seine definitorischen Aussagen kennen kein Abwägen, eine dialogische Absicht ist nicht zu erkennen. Dieses Verfahren entwertet die auf Sachkenntnis und Erkenntnis gegründeten Auffassungen von Aicher, die fehlende Darlegung eines Zusammenhangs färbt das je Ausgeführte oft zur Meinung.

„zeitgeist ist eine entdeckung der bürgerlichen kunstgeschichte, die es als unfein empfand, von tatsachen zu sprechen, und sich dem geistigen zuwandte.“ (die welt als entwurf, S. 40)

„kunst ist das nicht verstehbare. versteht man das, was ein bild zeigt, ist es keine kunst mehr. so wendet sich auch die kunst ab von jeder form des verstehbaren, sie wendet sich der eigentlichen domäne des irrationalen zu, der ästhetik an sich“. (die welt als entwurf, S. 31)

In den Schriften tauchen immer wieder Abstrakta unvermittelt auf, die als rhetorischer Automatismus gleichsam den Hintergrund bilden, vor dem sich das Geschriebene abspielt. Es sind an erster Stelle: DER Staat und DIE Bürokratie. Solche Einsprengungen sind zwar manchmal störend, aber doch verstehbar und nachvollziehbar aus dem antinazistischen Leben, aus Aichers Renitenz und seinem Widerstand gegen staatliche Willkür und Unterdrückung. Eine Haltung, die ihn sein Leben lang nicht verlässt. Andere immer wieder geradezu zwanghaft auftauchende Gespenster wie DIE Kunstgeschichte, DIE Kunst, DIE Ästhetik dagegen sind schwer verständlich, pauschal auf den jeweiligen Gegenstand projiziert sind sie ohne Treffsicherheit. Diese Gedankenbilder verweisen eher auf Ressentiments, befeuern den alten und überflüssigen Streit um angewandte und freie Kunst und deuten sowohl auf ungelöste Konflikte mit Kollegen als auch auf ein theoretisches Defizit hin.

Das alles kommt sehr ernst daher, es verkündet resolut und kategorisch Richtiges, ohne Ironie oder Heiterkeit. Die geistige Umgebung, in der Otl Aicher aufwuchs, in die er sich als junger Mann aus freien Stücken begeben hat und in der er zum Denken kommen wollte, war keine freilassende Gegend, sondern ein gewähltes Milieu streng katholischer Doktrin, ihm ganz gewiss hilfreich inmitten einer nazistischen Welt. Aber dies Gewählte kannte weniger das Argument, sondern legte sehr viel Wert auf Glauben, Offenbarung, Überzeugung und auf Zeugnis ablegen. Schon in den Begegnungen, Diskussionen und im Briefwechsel mit den Geschwistern Scholl zeigt sich dies sehr deutlich. Bereits hier erscheint Aicher zugleich als gelehriger Schüler und strenger, geradezu bedrängender Lehrer, ja als Prediger.

Otl Aicher wurde 1941 das Abitur verwehrt, da er sich weigerte, in die Hitlerjugend einzutreten. Das nach dem Krieg begonnene Studium der Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste in München brach er nach kurzer Zeit ab und eröffnete 1947 sein eigenes Atelier in Ulm. Wie viele Intellektuelle und kritische Geister seiner Generation musste er mitansehen, wie so mancher Nazi nach dem Krieg umstandslos auf seinen alten Posten übernommen wurde, musste erkennen, dass die alten Mächtigen die wirklich Überlebenden waren. Sie mussten nicht neu anfangen, sie konnten weitermachen, was immer sie konnten oder gelernt hatten. Andere hatten nichts. Was blieb ihnen? Sie machten daraus einen Anfang, wurden Macher und machten. Ein Macher ist einer, der nichts Bestimmtes schon kann, einer, der keinen Rückhalt hat, dem alles offen ist, der nicht eingebunden ist, den keine Situation trägt, der dann aber tut. So gesehen ist Otl Aicher ein permanenter Quereinsteiger, im Schreiben wie im Entwerfen. Er verdankt dann aber im Umkehrschluss auch alles nur sich selbst. Darauf besteht er, so inszeniert er sich und liefert sich selbst und der Öffentlichkeit das Idealbild eines Selfmademan.

Otl Aicher zeigt sich in seinen Texten als belesener und vielseitig interessierter Mensch, der immer wieder versucht, das Gelesene mit seinen professionellen Erfahrungen und seiner Lebenserfahrung zusammenzubringen. Dabei überlässt er sich einer assoziativen Stimmung, seine Assoziationskaskaden ergeben einen schillernden, hüpfenden, stürzenden Text. Es ist, als habe er zeitlebens seinen jugendlichen Schreib- und Denkstil beibehalten: sprunghaft, polternd, voller mehr oder weniger kühner Hüpfer. Ein Stil, der eher in Briefen oder Tagebucheinträgen oder Notizen in Arbeitsjournalen zuhause ist.

„Ja, das würde ich auch sagen. Wenn er redet, ist er sehr differenziert und ist nicht, wie beim Schreiben, immer pauschalierend….Er ist im Narrativen ein Genie, er kann dir wunderbar die Welt erklären, aber beim Schreiben wird es eben dann platt.“  (Andreas Schwarz im Gespräch am 1. Juli 2022)

Was wäre, wenn das, was Otl Aicher schreibt, von ihm erzählt würde – im Freien, am Tisch unterm Baum bei Bier und Brezel? Das wäre ergötzlich, unterhaltsam, vergnüglich, selbst wenn die Veranstaltung vom Sprecher als Belehrung gemeint wäre – diese Absicht wäre in der Performance gebrochen. Das Sagen und das Gesagte bekämen Luft, manches löste sich einfach auf, anderes bliebe hängen, als Erinnerung, es wäre vielleicht Ausgangspunkt für ein eigenes Bild, einen neuen Gedanken, eine Überlegung und böte so an, die Assoziationsketten weiterzuführen. Jedenfalls wäre dies bürdelos. So wär’s mir recht, und ich hätte gerne mit am Tisch gesessen.

Chup Friemert ist Designer und Designtheoretiker. Er studierte Industrial Design an der Staatlichen Akademie Stuttgart, experimentelle Umweltgestaltung an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig sowie Publizistik, Philosophie und Volkswirtschaft an der Freien Universität Berlin. Seine Studien beendete er 1977 mit einem Diplom an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig und einer Promotion an der Universität Bremen. 1984 wurde Friemert Professor an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg. Darüber hinaus lehrte er als Gastprofessor am Instituto Superior de Diseño Industrial in Havanna, Kuba, an der National Chinese Academy of Fine Arts, Hangzhou, China, sowie an der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Karlsruhe, wo er seitdem assoziierter Professor ist. Veröffentlichungen zu historischen und aktuellen Gegenständen des Designs und der Architektur, so über den Lebensreformer William Morris und die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky, die Stahl- und Glasarchitektur der Weltausstellungspaläste des 19. Jahrhunderts und Hegels Philosophie der Kunst.