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Pädagogin, Autorin, Aktivistin

Inge Aicher-Scholl wahrte das Erbe der Weißen Rose

Unter dem Motto „Einmischung erwünscht“ setzte Inge Aicher-Scholl mit der Ulmer Volkshochschule (vh) früh auf das Engagement im gesellschaftlichen Leben ihrer Stadt. Das Bild zeigt sie im Unterricht, an der Wand sind vh-Plakate von Otl Aicher zu sehen. Foto: © vh ulm

Sie schuf wegweisende Bildungseinrichtungen, die dem Aufbau und der Stärkung der bundesrepublikanischen Demokratie verpflichtet waren: Inge Aicher-Scholl war Gründerin der Ulmer Volkshochschule sowie Mitgründerin der Hochschule für Gestaltung – und weit mehr. Als politische Aktivistin engagierte sie sich bereits Ende der 1960er Jahre in der Friedensbewegung.

„Es galt, die Fenster zur Welt aufzustoßen und den Einzelnen zu eigenem Denken und Urteilen, zur Mitverantwortung für die Gesamtheit anzuregen“, so hat die Gründerin der Ulmer Volkshochschule ihr Programm formuliert.1 Inge Aicher-Scholl (1917-1998) prägte über Jahrzehnte in der Bundesrepublik die Erinnerung an die Weiße Rose, insbesondere an ihre 1943 hingerichteten Geschwister Hans und Sophie Scholl.

„Im Geiste der Gemordeten“ gründete sie gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Otl Aicher 1946 die Ulmer Volkshochschule (vh Ulm) und 1953 die Hochschule für Gestaltung (HfG Ulm). Die vh Ulm leitete sie bis 1974. Mit beiden Gründungen schuf sie wegweisende Bildungseinrichtungen, die sich dem Widerstand gegen das NS-Regime sowie dem Aufbau und der Stärkung der bundesrepublikanischen Demokratie verpflichtet fühlten und emanzipatorische Maßstäbe setzten. Als politische Aktivistin engagierte sie sich insbesondere gegen die atomare Aufrüstung in den Fünfzigerjahren und in der Friedensbewegung in den Achtzigerjahren.

Die Entstehung der HfG Ulm ist eng verknüpft mit der Gruppe 47 und ihrem Gründer Hans Werner Richter, der als Rektor einer „Geschwister-Scholl-Hochschule“ vorgesehen war. Die Aichers blieben den Schriftstellern verbunden. Das Bild zeigt Günter Grass und Inge Aicher-Scholl bei einer Tagung der Gruppe 47. Foto: Otl Aicher

Hildegard Hamm-Brücher lernte Inge Aicher-Scholl bereits Anfang 1947 kennen. Für die Politikerin gehörte die Schwester von Hans und Sophie Scholl neben Kogon, Mitscherlich, Guardini und Heuss zu den überzeugendsten geistigen Erneuerern der Nach-Hitler-Zeit. © vh ulm

Bildungspolitikerin Hildegard Hamm-Brücher (links), Inge Aicher Scholl und Autorin Dagmar Engels im Gespräch. Foto: © vh ulm

Hildegard Hamm-Brücher lernte Inge Aicher-Scholl bereits Anfang 1947 kennen. Für die Politikerin gehörte die Schwester von Hans und Sophie Scholl neben Kogon, Mitscherlich, Guardini und Heuss zu den überzeugendsten geistigen Erneuerern der Nach-Hitler-Zeit. © vh ulm

Geschwister im Widerstand

Als Fünfzehnjährige zog Inge Scholl 1932 mit ihrer sechsköpfigen Familie aus Hohenlohe nach Ulm. Hier eröffnete ihr Vater Robert ein Steuer- und Wirtschaftsprüferbüro, in dem Inge nach der Mittleren Reife ab 1934 mitarbeitete. Inge hatte vier jüngere Geschwister, Hans, Elisabeth, Sophie und Werner. Die Mutter Magdalene, bis zur Heirat eine evangelische Diakonisse, sorgte für ein großzügiges, glückliches Familienleben.

Alle Geschwister Scholl hatten bald leitende Positionen in HJ und BDM. Anders als Vater Robert identifizierten sie sich mit der NS-Ideologie. Ab 1936 war Inge Scholl Ringführerin eines Jung Mädels-Rings und verantwortlich für 600 Mädchen.

Ab 1936/37 distanzierten sich die Scholl-Geschwister jedoch von den NS-Jugendverbänden. Die Quittung dafür bekamen Inge, Hans und Werner 1937 als sie wegen sogenannter „bündischer Umtriebe“ inhaftiert wurden. Inge und Werner wurden schnell wieder entlassen. Doch der Bruch mit dem NS-Staat war da. Statt Führer und Bewegung orientierte Inge sich jetzt an der bündischen Jugend und an den liberalen und christlichen Werten ihres Vaters. Auch interessierte sie sich nun zunehmend für zeitgenössische Kunst und Literatur.

Anfang der Vierzigerjahre lebte Inge als einzige der Geschwister noch bei den Eltern in Ulm. Wichtig wurde in dieser Zeit für sie Otl Aicher, ein Klassenkamerad ihres Bruders Werner. Unter seinem Einfluss wandte sie sich zunehmend dem Katholizismus zu. Glaubensfragen wurden zentral in ihrem Leben. Ihr Glaube sollte bei den zukünftigen Schicksalsschlägen eine große Stütze für sie sein.

Am 18. Februar 1943 wurden Hans und Sophie Scholl beobachtet, wie sie die Flugblätter der Weißen Rose in den Lichthof der Münchner Universität auslegten. Sie wurden sofort verhaftet. Die Eltern reisten am 22. Februar nach München zum Prozess, der mit dem Todesurteil endete. Inge wollte ihre Geschwister am 23. besuchen und erfuhr im Münchner Justizpalast, dass Hans und Sophie bereits hingerichtet worden waren. Am 25. Februar, einen Tag nach der Beerdigung, kam die Familie in Ulm in „Sippenhaft“. Bereits hier begann Inge sich Notizen zum Leben von Hans und Sophie zu machen. Sie wollte deren Geschichte, deren Mut für die Nachwelt bewahren. Sie durften nicht umsonst gestorben sein. 1952 erschien ihr Buch „Die Weiße Rose“, das Hans und Sophie Scholl ins Zentrum der Münchner Widerstandsgruppe rückte. Das Buch wurde ein Welterfolg und in viele Sprachen übersetzt. Bis zu ihrem Tode 1998 bestand Inge Aicher-Scholl erfolgreich auf ihrer Deutungshoheit über die Geschichte der Weißen Rose.

Portrait Inge Aicher-Scholl 1955, Foto: Sisi von Schweinitz. © HfG-Archiv / Museum Ulm

1950 erschien die Zeitschrift „Heute“ mit einem Titelblatt, das die Vh-Gründerin Inge Scholl vor einem Plakat von Otl Aicher zeigte: „Inge Scholl leitet in Ulm die modernste Volkshochschule", lautete der Titel der dazugehörigen Geschichte. Foto: Hannes Rosenberg. Covergestaltung: Fred B. Bleistein.

Von dem Buch „Die weiße Rose“ wurden bislang über eine Million Exemplare verkauft. Hier ist der von Otl Aicher gestaltete Schutzumschlag der Erstausgabe zu sehen. Sie erschien 1952 im Verlag der Zeitschrift „Frankfurter Hefte“. Seit 1955 wird der Band als Taschenbuch im S. Fischer Verlag angeboten.

1950 erschien die Zeitschrift „Heute“ mit einem Titelblatt, das die Vh-Gründerin Inge Scholl vor einem Plakat von Otl Aicher zeigte: „Inge Scholl leitet in Ulm die modernste Volkshochschule", lautete der Titel der dazugehörigen Geschichte. Foto: Hannes Rosenberg. Covergestaltung: Fred B. Bleistein.

Über die viel beachteten Vorträge an der Vh Ulm hießt es in zeittypischer Diktion; „Der große Physiker Werner Heisenberg, der berühmte Dichter Carl Zuckmayer, der deutsche Philosoph Romano Guardini und viele andere folgten dem Ruf des Mädchens aus Ulm.“ Texte: Ike Rosenberg. Fotos: Hannes Rosenberg. Archiv Thomas Edelmann.

Über die viel beachteten Vorträge an der Vh Ulm hießt es in zeittypischer Diktion; „Der große Physiker Werner Heisenberg, der berühmte Dichter Carl Zuckmayer, der deutsche Philosoph Romano Guardini und viele andere folgten dem Ruf des Mädchens aus Ulm.“ Texte: Ike Rosenberg. Fotos: Hannes Rosenberg. Archiv Thomas Edelmann.

Einmischung erwünscht

„Im Geiste der Gemordeten“ gründete Inge Scholl am 24. April 1946 die Ulmer Volkshochschule, die vh Ulm, die sie vom ersten Tag bis 1974 leitete. Gemeinsam mit Otl Aicher, den sie 1952 heiratete, hatte sie eine bahnbrechende Konzeption für eine Schule der Demokratie zur Bildung mündiger Bürger entwickelt. Dank ihres Bezugs zur Weißen Rose, ihres Organisationsgeschicks und ihrer Willensstärke gewann sie namhafte Politiker und Intellektuelle als Vortragende. Ihre Devise lautete „Einmischung erwünscht“. Mit Preisausschreiben wurden beispielsweise die Menschen aufgefordert, sich an der Stadtplanung Ulms zu beteiligen. Bis in die Siebzigerjahre galt die vh als geistiger Mittelpunkt der Stadt. 1968 zog die vh ins EinsteinHaus, ein Neubau im Herzen der Stadt, für den Inge lange gekämpft hatte und dessen Errichtung ihr zu verdanken ist. Das EinsteinHaus wurde ein zentraler Anlaufpunkt für die Jugend der Stadt.

Inge Aicher-Scholl galt den US-Amerikanern als Hoffnungsträgerin für den demokratischen Neubeginn in Deutschland. Sie schaffte es sogar auf das Cover des US-Nachrichtenmagazins „Newsweek“.

1953 gründete Inge Aicher-Scholl gemeinsam mit Otl Aicher und Max Bill die Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG Ulm), die international bedeutendste Design-Hochschule nach dem Bauhaus. Inge Aicher-Scholl war es, die mit ihrem Engagement die Finanzierung der Schule sicherstellte. Als Vorsitzende der Scholl-Stiftung auf Fundraising-Tour in den USA schaffte sie es sogar auf das Cover des Nachrichtenmagazins „Newsweek“. Sie galt den US-Amerikanern als Hoffnungsträgerin für den demokratischen Neubeginn in Deutschland. Lernen für eine freie und demokratische Zivilgesellschaft, das war ihre Devise – auch bei der Gründung der HfG. Das Ulmer Hochschulexperiment währte bis 1968. Die Arbeiten, die aus den Bereichen Produktgestaltung und Visuelle Kommunikation hervorgingen haben das Bild der Bundesrepublik nachhaltig geprägt.

Inge Aicher-Scholl war auch außerhalb von vh und HfG zivilgesellschaftliche Aktivistin. Bereits 1960 war sie Mitgründerin des Ortsvereins Ulm/Neu-Ulm Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind. In den Siebzigerjahren unterstützte sie die Gründung der KZ-Gedenkstätte Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg in Ulm, 1987 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Weiße Rose Stiftung e.V. in München. Prominent war ihre Teilnahme gemeinsam mit Otl Aicher an der Menschenkette gegen die atomare Aufrüstung in Europa am 22. Oktober 1983

1972 war die Familie Aicher-Scholl in die Rotis-Mühle bei Leutkirch gezogen. Mit dabei waren die jüngeren Söhne Julian und Manuel sowie die älteste Tochter Eva mit Down Syndrom. Die 1954 geborenen Zwillinge Florian und Pia blieben in Ulm, um die Schule abzuschließen. 1975 traf Inge Aicher-Scholl, die bereits drei Geschwister verloren hatte (Bruder Werner kam nicht aus dem Krieg zurück), ein weiterer Schicksalsschlag. Pia kam bei einem Verkehrsunfall nach einem Wochenende in Rotis ums Leben. Der Unfalltod ihres Mannes Otl Aicher am 1. September 1991 überschattete Inges letzte Lebensjahre, die sie einem Buch über die Tochter Eva und der Verwaltung des Nachlasses der Geschwister Scholl und Otl Aichers widmete.

1997 ehrte die Stadt Ulm Inge-Aicher-Scholl mit der Ehrenbürgerschaft. Sie starb am 4. September 1998 in Leutkirch.

Otl Aicher, Inge Scholl und Hans-Werner Richter auf dem Ulmer Marktplatz (1949). Foto: Hannes Rosenberg. © HfG-Archiv/Museum Ulm, Sign. HfG-Ar Ros Abz 750-11 (1)

In der Ulmer Wohnung der Eltern Robert und Magdalene Scholl: Otl Aicher und Inge Scholl 1950. Foto: Hannes Rosenberg © Manuel Aicher

Otl Aicher, Inge Scholl und Hans-Werner Richter auf dem Ulmer Marktplatz (1949). Foto: Hannes Rosenberg. © HfG-Archiv/Museum Ulm, Sign. HfG-Ar Ros Abz 750-11 (1)

In der Ulmer Wohnung der Eltern Robert und Magdalene Scholl: Otl Aicher und Inge Scholl 1950. Foto: Hannes Rosenberg © Manuel Aicher

Dagmar Engels, promovierte Pädagogin, leitete – wie einst Inge Aicher-Scholl – die Ulmer Volkshochschule, die stets dem Erbe der Widerstandsgruppe Weiße Rose verpflichtet war. Nach über 27 Jahren als VS-Leiterin wurde Dagmar Engels 2019 pensioniert und ist weiterhin in der Ulmer Kommunalpolitik aktiv.

Anmerkungen

  1. Inge Scholl: Die Ulmer Volkshochschule, Manuskript ohne Datum (1949) Archiv vh ulm

 

Anregungen zum Weiterlesen
Christine Hikel: Sophies Schwester, Inge Scholl und die Weiße Rose, München 2013
Christine Abele-Aicher (Hrsg.): Die sanfte Gewalt, Erinnerungen an Inge Aicher-Scholl, Ulm 2012
Barbara Schüler: Von der Weißen Rose zur Eule der Weisheit. Die Anfänge der Ulmer Volkshochschule, Ulm 1996
Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten …“. Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit, Paderborn u.a. 2000
Inge Scholl: Die weiße Rose, Frankfurt 1952
Inge Aicher-Scholl: Eva. Weil Du bei mir bist, bin ich nicht allein, Riedhausen 1996