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Die Form wirft sich in Positur

Otl Aicher und seine Kritik am Auto

Otl Aicher, Cover des Buches „kritik am auto“, 1984, Ausschnitt. Zeichnung: Reinfriede Bettrich © Florian Aicher

Das Buch „kritik am auto – schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter“ erschien 1984 als begleitende Publikation zur gleichnamigen Ausstellung, die Aicher in Kooperation mit der Bayrischen Rück gestaltete. Doch die Versicherung sagte die Schau in letzter Minute ab, BMW stieg ein und präsentierte Aichers Autokritik im Foyer der Konzernzentrale. Florian Aicher erinnert sich und analysiert Volten und Widersprüche des aufreibenden Projektes.

Ein Sommer gemeinsamen Schaffens in Rotis mit meinem Vater. Er hatte gefragt, ob ich an einem Projekt mitbearbeiten wolle. So übernahm ich 1983 die Produktion der Tafeln für die Ausstellung zum Thema 100 Jahre Automobil für die Bayerische Rück. Titel: „Kritik am Auto“.

Die Arbeit begann montags pünktlich um 8 Uhr – der strenge Tagesablauf war mir von früheren Arbeitseinsätzen bestens vertraut – in einem langgestreckten Raum eines der neuen Ateliers. Am Boden wurden gut ein Dutzend blanker DIN A0-Blätter aufgereiht. Nun galt es, das „Rohmaterial“ – Strichzeichnungen (von Reinfriede Bettrich) und kurze Texte (von Otl Aicher), ausschließlich schwarze Linie auf weißem Grund – auf diesem Feld zu organisieren. Bei meiner typografischen „Familienbildung“ eigentlich klar: dem Inhalt folgend, gemäß Lesefluss von links oben nach rechts unten, Bild und Text kurzgeschlossen. Umso größer die Überraschung, als der Vater loslegte: Zeichnungen und Textblöcke wurden neu auf der Fläche ausgelegt, verschoben, ausgetauscht und nach einem Rhythmus optischer Ausgeglichenheit angeordnet. Nach mehrfachem Durchgang, frei nach Gusto des Meisters, war das Layout fertig. Nach diesem Prinzip wurden alle 36 Tafeln in den folgenden Wochen organisiert, montiert, zum Drucker (Horst Kämmer), zwei Dörfer weiter, gebracht. Der fertigte mit einer vier Meter langen Reprokamera die Siebe und in manueller Arbeit wurden mit der Rakel je Motiv fünf tadellose Blätter gedruckt.

Kurz vor Fertigstellung sagte die Bayerische Rück die Ausstellung ab; von Interventionen aus Wolfsburg wurde gemunkelt. Dann wurde die Ausstellung im Foyer der BMW-Zentrale in München eröffnet, Stationen in Zürich, Tokio und London folgten.

Der Ausstellung steht das Buch „kritik am auto, schwierige verteidigung des autos gegen seine anbeter – eine analyse von otl aicher“, das 1984 im Müncher Callwey-Verlag erschien, zur Seite.*

Und da folgt die nächste Überraschung: Bereits im zweiten Abschnitt des Buches fegt Aicher mit einem Federstrich das Thema vom Tisch. Nicht ein Jubiläum zum Hundertsten des Automobils stehe an, sondern der fünfzigste Geburtstag des VW-Käfer-Prototyps. Das Auto für alle, in großer Serie hergestellt, effizient produziert, rational und erschwinglich, technisch optimiert – dank „ingenieuser“ Rationalität seines Konstrukteurs, Ferdinand Porsche. Nur darüber lohne sich heute zu reflektieren!

Ferdinand Porsche konstruierte 1935 den Ur-VW, den Porsche-Käfer 38/06, wenig später KdF(Kraft durch Freude)-Wagen genannt. Foto: © VAU-MAX

Porsche, der Ingenieur, wird auf den folgenden 160 Seiten zwei Dutzendmal angerufen. Dieses Idol steht für „ökonomisches, technisch intellektuelleres prinzip der einfachheit (S. 20), rationales, ingenieuses design, das aus dem denken kam“ (S. 39). Dem zweiten Idol dieses Buches, dem italienischen Industriedesigner Giorgio Giugiaro, attestiert Aicher „freude an gedanklichen konzepten. er denkt mit. …welcher designer darf sich schon trauen zu denken?“ (S. 43) fragt er und führt damit ist ein Muster ein, das das Buch prägt: Ingenieur statt Kaufmann, Werkstatt statt Konzern, Intellekt statt Gefühl, Kalkül statt Ästhetik, Design statt Kunst. Schlagworte prägen Aichers Gedanken und treiben sie voran, mitunter so aufgeladen, dass Pleonasmen – etwa „Ersatzillusion“ – helfen müssen.

Ingenieuse Rationalität als Grund guten Designs? Die nächste Überraschung steht an. Was sich eben noch abgestoßen hat, wird nun zusammengespannt: „technische Ästhetik“ (S. 16). Ingenieure wie Porsche, Kamm, Everling, Koenig-Fachsenfeld und andere, haben in den 1920er bis 30er Jahren in wissenschaftlichen Experimenten die Stromlinie als die dem Auto, einem Objekt in Bewegung, adäquate Form ermittelt. „die stromlinienform, stilform des 20. Jahrhundert wie der spitzbogen für die gotik“ (S. 18) wird nun als „ästhetisches diktat“ (S. 16) ausgemacht. Dass diese Ingenieure mit der gekappten Stromlinienform seinerzeit ein brauchbares Volumen fanden, räumt Aicher ein, sieht dies aber erst verwirklicht bei VW Golf und Fiat Uno durch das Design Giorgio Giugiaros.

Von der Stromlinie zur Kamm Form. Aus dem Buch „kritik am auto", 1984, Seite 14. © Callwey Verlag, Florian Aicher

Von der Stromlinie zur Kamm Form. Aus dem Buch „kritik am auto", 1984, Seite 14. © Callwey Verlag, Florian Aicher

Zuvor galt: „spitzenleistungen der ingenieurtechnik, die zugleich spitzenleistung des autoesign sind“ gehen verloren, wenn „man auf die richtige nase für den markt mehr vertraut als auf essentielle vorschläge von ingenieuren.“ (S. 18) Zwei am Markt höchst erfolgreichen Modelle setzen das außer Kraft? Staunen macht Aichers Feststellung: „nichts gegen erkenntnisse, nichts gegen die wissenschaft.“, Nur: „messen ist etwas anderes als entwerfen.“ (S. 27) Was dann?

Aicher paraphrasiert Ludwig Wittgenstein, wenn er feststellt: „das kriterium für das richtige auto ist sein gebrauch.“ (S. 29) Im Unterschied zu seinem Vorbild wertet er mit dem Adjektiv „richtig“, wo dieser nur beschreibt. Urteilen erfordert eindeutige Kriterien – welche sollen das beim Gebrauch sein? Bei den zahlreichen Arten des Gebrauchens, die Aicher aufführt? Und: kommen da nicht zwingend ins Spiel: konkretes Leben, Gebräuchlichkeit, Spiel und Mitspieler, Lust und Laune, Emotion und Gefühl? Auf den 160 Seiten des Buches kommt das Wort Gefühl nur einmal vor. Werden Leidenschaften zur Sprache gebracht, so sind schnell die Worte Playboy, Potenzgehabe, Sex zur Hand; es wird schlüpfrig.

Noch überraschender die folgende Kehre: Otl Aicher lässt Hermann Hesse, einen Autor, der als Seismograph des Seelischen gilt, wie folgt zu Wort kommen: „ein automobil … da sah er … ein bild, das ihm bekannt schien, das ihn erinnerte und seinen gedanken neues blut zuführte. er sah sich auf einem auto sitzen und es steuern, das war ein traum, den er einmal geträumt hatte … . in jenem traumgefühl, da er sich selbst der steuerung bemächtigt hatte, war etwas wie befreiung und triumph gewesen.“ (S. 55) Aus dieser Beobachtung schließt Aicher auf eine wesentliche Qualität der Automobilität: „das auto ist ein stück selbst, ein einzelsubjekt-gerät, es ist ein stück einer person, gibt das signum der selbstbestimmung (S. 56)…“es ist träger der subjektivität selbst. (Seite 58)“ Um es ganz klar zu machen, ergänzt er: „das zeigt, wie sehr das auto auf den menschen als subjekt bezogen ist und wie falsch es ist, es vorwiegend unter dem gesichtspunkt der gesellschaft zu sehen. (S. 58)“ Diese Sicht ist ihm nicht neu.

„verkehr bedeutet die optimierung der ortsveränderung einer bestimmten menge in einer bestimmten zeit“, schreibt Aicher. In einer Grafik hat er den Verkehrsfluss auf der deutschen Autobahn festgehalten und mit dem auf einem US-amerikanischen Interstate Highway (unten) kontrastiert. Aus: „kritik am auto“, Seite 127, © Callwey Verlag, Florian Aicher

Bereits 1948 hatte er festgehalten: „dann setze ich mich auf mein motorad, nehme die stoßdämpfer weg, beule am auspuff herum, lege mich hin und denke an die panzer. der krieg, donnerwetter, der hat schon klänge geboren. … dann probiere ich es wieder mit meinem motorrad. immerhin, es taugt schon was. ich fahre über die gepflasterte strecke, da sind die pneus so wunderbar … eine maschine, ich kann ihr zuhören wie höchstens noch dem jazz. ich höre, wenn der motor schlecht aufgelegt ist, … spüre durch den rahmen die erregung seiner freude … so ist das, wenn man süchtig ist.“ (Otl Aicher.: „Beethoven wird von einem Lastwagen weggefahren“, Manuskript 27.2.1948). 35 Jahre später heißt es in den „innenseiten des kriegs“ (1985): „an der front gibt es eine enthemmte form der dinge, zielstrebigkeit, unbekümmertheit, ohne schnörkel, ohne stil, ohne kunst.“ (S. 106). „jeder liegt auf der lauer, irgendwann mit seiner kraft, seinen muskeln etwas anzufangen. nicht im fremdgesteuerten organisationsrahmen, sondern als entfaltung seiner selbst.“ (S. 109) Die Verschmelzung von Mensch und Maschine: Das ist Futurismus, das ist Filippo Tommaso Marinetti, das ist der Ernst Jünger des „Arbeiters“; Avantgarde des ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts, bei Aicher noch an dessen Ende. Das will er nicht preisgeben.

Aichers Autokritik ist elegant formuliert und bleibt doch abstrakt – die Körper sind blass, die Gefühle stumm.

Die Freiheit des „freibeuters“ (S. 66) ist freilich passé. An Stelle der Verschmelzung Mensch/Maschine auf der Rennmotorrad setzt Aicher nun die Lässigkeit der „situationsbeherrschung“ (Seite 148) auf der Geländemaschine. Analog wird das Auto zum „Freizeitgefährt“ – Sport Untility Vehicle, SUV.

Emotionale Energien müssen umgelenkt werden, ein „Neuer Mensch“ soll entstehen. Nicht Geringes schwebt ihm vor, als eine neue „verkehrsmoral, verkehrskultur“ (S. 67). Der Entwerfer hat sich vorranging vom Ding ab- und dem System zuzuwenden. „es geht erst um zielsetzung und konzepte, ehe man technische lösungen zu suchen hat… dafür sind designer gefragt.“ (S. 10) „auto und straße sind bestandteile eines systems, nicht zwei objekte, sondern zwei elemente des phänomens verkehr.“ (S. 126) das funktionieren des systems als ganzes macht meine freiheit möglich.“ (S. 124)

Das letzte Drittel des Buches behandelt Themen wie Verkehrsopfer, Emmisionen, Platzbedarf und Stadtgrundriss. Das Thema Ressourcen ist trotz des Berichtes „Die Grenzen des Wachstums“ vom Club of Rome im Jahr 1972 kaum Thema; der Zeit gemäß ist der Abgasausstoß Indikator für Energieverbrauch; CO2-Emission kommt noch nicht vor.

Und die Erscheinung der Dinge, das „Autodesign“? Wer sich nach dem Kunst- und Stylingbashing, nach den Hymnen auf Ingenieur und Technik, dazu Konkretes erwartet hat, sieht sich eher enttäuscht. Gewiss: Das Lob des Fiat Uno zieht sich durch das Buch, da gibt es hier ein gutes Wort für den Range Rover, dort eines für den Mini. Ansonsten: Große Zurückhaltung.

Designstudie Alfa Romeo-Rennwagen, 1936 (oben) und 1937. Aicher schreibt: „im einen fall ist die motorgaube so geschnitten wie sie technisch am einfachsten ist. Die abluftschlitze stehen gerade. In anderen Fall will man das auto durch styling schneller aussehen lassen … die technik wird der symbolik untergeordnet.“ Aus "kritik am auto", 1984, Seite 73. © Callwey Verlag, Florian Aicher

Das beginnt bereits mit den Darstellungen im Buch: „zurückhaltend wie technische zeichnungen…. darunter leidet sicherlich die darstellung der körperlichkeit, von rundungen, plastischen verformungen“ (S. 70) Doch Seitenansichten als Strichzeichnung in gleichem Maßstab dienen dem analytischen Vergleich, sprechen sie doch die „sprache des denkenden designers.“ (S. 70) Auf lediglich zwei Seiten wird der Ertrag dieser Methode demonstriert: Im Vergleich zeigt der Fiat Uno zum VW Golf straffere Linien; im Vergleich zweier Alfa Romeo Rennwagen zeigt die erste Version einen rechtwinkligen Zuschnitt der Lüftungsschlitze, bei der späteren sind diese schräg gestellt als fliehende Linien, um „das auto durch styling schneller aussehen zu lassen.“ (S. 73) Bleibt das Loblied auf den Fiat Uno: „ein auto zum verlieben, selbstbewußt und bescheiden, kein gramm fett zuviel, gespannte haut.“ (S. 25) Straff, streng, geradlinig, einfach, „intellektuell“ – ansonsten bleibt es dabei, „daß schönheit eine frage der reduktion ist. (S. 42)“ Nachgereicht wird noch: „der fiat panda war eine kiste ohne großen ästhetischen spielraum. der golf war prägnant. der uno hat eine ästhetische dominante. er ist elegant, von gekonnter schmucklosigkeit. die form wirft sich in positur.“ (S. 46)

Das ist elegant formuliert und bleibt doch abstrakt – die Körper blass, die Gefühle stumm. Trägt die coole Ratio des Designs, wie von Aicher verheißen, die Erneuerung des Autos? „ich träume“, heißt es am Ende des Buches, „von einem auto höchster qualität, das mir auf den leib geschnitten ist, teil meiner selbst, das fahren zu einem körperlichen vorgang macht. es folgt mir, es ist ein reitpferd, kein rennpferd.“ (S. 126) 38 Jahre später versucht es der renommierte KI-Forscher Toby Walsch nochmals mit dem Pferd: „In ein paar Jahrzehnten wird Autofahren ähnlich sein wie das Reiten heute. Einst war es wichtig, heute ist es zu einem Zeitvertreib geworden. Mit dem Auto wird es ähnlich sein. Es wird ein teures Hobby sein.“ (FAZ, 07. 06. 2022)

Otl Aicher: Studien zur Körperhaltung. „neu ist die erkenntnis, daß nicht das weiche, bequeme sitzen, etwa in einem sessel vorteilhaft ist, sondern das aufrechte sitzen, die wirbelsäule des manschen hat ihre beste statische balance und ihren besten kinetischen aktionsradius bei einer aufrechten haltung.“ Aus dem Buch „kritik am auto", 1984, Seite 87. © Callwey Verlag, Florian Aicher

Und heute, wie wirft sich die Form in „positur“? Emotion ist das Credo des Autodesigns, Aggression herrscht vor. Das „Gesicht“ von Autos wird als Zeichen im Kampf um die besten Plätze gelesen. Schiere Größe zählt, die Statur hochgezogener Schultern, der Gesichtsausdruck einer fauchenden Fratze mit aufgerissenem Mund und ansteigenden Augenschlitzen, Undurchdringlichkeit von totalem Schwarz. Kürzlich hat die Süddeutsche Zeitung (25./26. 06. 2022) den neuen Range Rover vorgestellt, „Mutter aller Luxus-SUVs“; das Design ist „weit weg vom Einerlei, nahe an der Perfektion, bewusst minimalistisch.“ Das Ding ist 5,00 Meter lang, 2,20 Meter breit, 1,90 Meter hoch, wiegt 2,8 Tonnen, verbraucht 15,3 Liter für 530 PS bei 235 Stundenkilometern. „Lautsprecher in den Kopfstützen erzeugen Gegenschallwellen zu den Geräuschen der Reifen … Segeln auf der Straße.“

*Soweit nicht anders genannt, verweisen die Seitenangaben auf eben dieses Buch.

Florian Aicher, *1954 in Ulm, ältester Sohn von Otl Aicher, Studium der Architektur an der Staatsbauschule Stuttgart, Praktikum in Buffalo/USA, dann drei Jahre Berufspraxis bei Werner Wirsing, München. Ab 1981 selbständig; neben Planung im Bereich Hochbau, Entwurf von Möbeln, Lehrtätigkeit an Hochschulen in Deutschland und Österreich; zuletzt an der Fachhochschule Kärnten. Journalistische Tätigkeit. Veröffentlichungen in internationalen Zeitschriften und Büchern, zahlreiche Publikationen zu den Bedingungen für das Gelingen von Architektur. Lebt seit 2005 in Rotis, Allgäu.