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Neun Buchstaben, senkrecht

Von O bis R: Reden wir zur Abwechslung mal über einen Igel, über Normierung und Neurotis (bitte auf die Buchstaben klicken).

© Stadt Isny / Isny Marketing GmbH

OBJEKT TROUVÉ.

Marcel rennt ums Haus und ruft: Otl schnell, ein Igel! Der eilt herbei, bückt sich und taucht empört wieder auf – der Neunjährige, das antiautoritäre Kinderladenkind, hat ihn, die Autorität schlechthin, gefoppt und lacht auch noch und alle schauen – ein Igel sitzt da schon, aber einer von Steiff.

TYPOGRAFIE UND TURBINE.

Das großformatige Werk über Typografie, das Aicher 1988 veröffentlichte, enthält die Summe seiner Erfahrungen mit Schrift, ihrer Gestaltung und Anordnung. Die Tradition, in der er sich wie der Fisch im Wasser bewegt, ist die der „Swiss Typography“. Dem bedeutendsten Schriftgestalter der After-Times-Time, dem Schweizer Adrian Frutiger und seiner Univers, verdankt Aicher viel. Weniger bekannt ist die Affinität zwischen Herkunft (Sanitär-Handwerk), dem Funktionsprinzip einer Turbine (Wasserkraftwerk in Rotis) und der Absolutheit des rechten Winkels bei Bildformaten, Raster und Satzspiegel. Seine eigene Schrift, die Rotis, ist die meistverbreitete Schrift der neunziger Jahre – von Audi bis zur Bibelgesellschaft, ob als Brotschrift oder Titelzeile, die Rotis ist unübersehbar – leider.

LESEBÜCHER FÜR DIE OBERSTUFE.

Der schönste Arbeitsplatz war die Bibliothek im Wohnhaus unterm Dach. Niemand störte mich, in meinem Schoß lag die Katze und schlief. Unternehmen, für die wir arbeiteten, suchte Aicher stets für eine Anthologie, eine Buchreihe oder eine „Werkausgabe“ zu gewinnen. Er war ein genialer Überredungskünstler. Die Buchreihen, die bei BMW und Erco, der Lufthansa und Franz Schneider Brakel entstanden sind, wurden vielfach als „schönste Bücher“ ausgezeichnet. Zeugnisse seiner Sorgfalt und Strenge bei der Gestaltung und Bildauswahl, bei Typografie und Druck.

AICHERS FARBEN.

Stuttgart Hbf, Sommer 1976. Er kam mit dem Zug, ich aus Berlin. Er war kleiner, kantiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und trug ausschließlich Schwarz. Drei Jahre später, auf einem Bodenseeschiff, musterten wir uns verblüfft – beide in Beige. Farben faszinierten ihn schon als Kind, und er wusste unendlich viel über sie. Wenn heute von den heiteren, den farbenfrohen Spielen der Olympiade 1972 in München die Rede ist, was sehen Sie im Blick zurück? Aichers Farben! Das lichte Blau, Weiß und Silber, Tieforange und Safrangelb, das dunkle und das helle Grün.

ISNY IM ALLGÄU

hatte kein Geld für Werbung, jedoch einen begeisterungsfähigen Verkehrsamtsleiter. Zudem war alles da: die Voralpenlandschaft mit Flüssen und Eistobel, das markante Stadtbild der Türme und Tore. Statt teurer Farbbilder schuf Aicher ein schwarzweißes Zeichensystem für Anzeigen und Plakate mit Versen und Textzeilen – so von Günter Herburger: „Meine Heimatstadt macht mich immer satt.“ Aichers Isny-Zeichnungen sind auch nach einem Vierteljahrhundert unvergleichlich: bodenständig und flirrend, kraftvoll und schwebend – Zen-Piktogramme sui generis.

CAROUSEL UND CIRCULAR.

Hans Gugelot hatte 1963 für Kodak einen Diaprojektor mit Rundmagazin entworfen: Carousel. So nannten wir das Seminar, das wir im Sommer 1978 in Rotes für befreundete Fotografen organisierten. Aicher selbst war ein skeptischer Fotograf. Er misstraute der Farbfotografie, die in Stern und Geo dominierte. Er verehrte die Schwarzweiß-Dokumentaristen: W. Eugene Smith, Magnum und Life. Ein Resultat des Carousel-Seminars war „Circular – eine nicht kommerzielle und unverkäufliche Zeitschrift aus dem Bereich von Fotojournalismus und visueller Kommunikation“. Das Heft erschien im Dezember 1978, es gab kein zweites.

HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG.

Sie ist dreiunddreißig Jahre nach ihrer Liquidierung durch die damalige Stuttgarter Landesregierung ein viel gepriesenes Modell. Was der damalige Regierungschef Filbinger versprach: „Wir wollen etwas Neues machen und dazu bedarf es der Liquidierung des Alten“ – wurde auch von seiner Marionette Späth nicht eingelöst – eine Hochschule für Gestaltung, die Studierende aus aller Welt nach Baden-Württemberg bringt.

EI VOM BITZ.

Als ich im Januar 1977 ins Allgäu kam, da lag der Schnee hoch und verriet, dass einer bereits vor mir nach Rotis stapft: der Bitz. Der ehemalige Hofknecht, Pistolero und Marderfänger arbeitete „beim Aicher“ und das mit 76! „Hat er was zum Siede?“ fragte er und schob mir ein Ei in die Tasche. „Was überbietet die Schönheit von einem Ei, besser noch zwei Eiern, die etwas in der Farbe verschieden sind?“ Otl Aicher in seinem Buch „Die Küche zum Kochen“, für das er etliche renommierte Köche an ihrem Arbeitsplatz besuchte.

ROTIS 655 METER ÜBER NORMALNULL

war eine marode Wassermühle, die Aicher mit dem Honorar der Olympiade 1972 erwarb und zur Wohn- und Arbeitsstätte ausbaute. Über die angeblich „autonome Republik“ ist seither viel Unsinn geschrieben worden. Dabei gab es kaum einen anderen Ort, der so zwanghaft normiert und autokratisch geführt wurde wie Rotis. Von „Neurotis“ sprachen die Mitarbeiter, und die meisten gingen eher früher als später. In einer Festschrift von 1987 sind besonders auffällig die Namen derer, die im Buch fehlen: Fred Kern zum Beispiel. Kern war in Ulm, dann München und später in Rotis Aichers engster Mitarbeiter – mehr als dreizehn Jahre. Sein Anteil am Aufbau von Rotis und an Aichers grafischem Werk ist erheblich – weshalb ihn ignorieren? Fred Kern, der in Ulm lebt und als Grafiker einsame Spitze ist – salü!

CODA: SCHREIBEN UND WIDERSPRECHEN.

Das 1993 postum erschienene Buch enthält eine Sammlung „politischer Essays“ und andere Aufsätze. Beim Lesen begegnet mir jener Aicher wieder, dessen Widersprüche mein Vertrauen zerstörten. Er verflucht den Terror der tief fliegenden Militärmaschinen über sich und den Seinen und beteiligt sich am Bau des neuen Flughafens bei München. Meine Vorwürfe erreichen ihn nicht. Schmallippig schaut er an mir vorbei. Er lobpreist das kostbare Wasser und beauftragt Bitz, die Klärgrube in den Bach zu entleeren. Unbegreiflich. In seinen Aufsätzen räsoniert er gegen den Staat und die Profitgier der Unternehmen und lebt doch sehr gut von ihnen. Entweder oder. Wozu all die Theorie, das bessere Wissen, wenn es für das eigene Leben folgenlos bleibt? Der Zorn kehrt zurück über diesen mir so fremden und über sein ins Reine geschriebene Gewissen.

Andreas Schwarz ist Autor, Grafiker und Ausstellungsorganisator. Er war von 1976 bis 1980 Mitarbeiter von Otl Aicher in Rotis im Allgäu und von 1991 bis 1996 Geschäftsführer der Villa Seidl, Haus für Schwabing, in München.

Der Text ist erstmals erschienen unter dem Titel „Als Grönland noch im Allgäu lag“, Süddeutsche Zeitung, 1./2. September 2007; hier gekürzt und als Buchstabenfolge arrangiert von Chup Friemert. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Süddeutschen Verlags, München.