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Ein gestaltender Denker

Im Jahr seines hundertsten Geburtstages wird das Werk des Ausnahmedesigners neu erschlossen. Die erste kritische Online-Werkschau lädt zum Diskurs ein.

Vorschau otl aicher 100

Foto: Bayerische Staatsbibliothek München/Bildarchiv/Karsten de Riese

Ein Generalist, Designer im umfassenden Sinne des Wortes: „der entwurf“, beschied er, „ist das erzeugen von welt.“ Eine große Kulturleistung. Otl Aicher sprach von „Zivilisationsarbeit“. Weitausholdende Proklamationen, Stringenz und Konstanz waren typisch für ihn. Und doch überraschte er oft mit unerwarteten Wendungen. Die kuratierte Online-Plattform will Zusammenhänge aufzeigen, Widersprüche nicht ignorieren. Vor allem: Den Denker nicht vom Macher, den Typografen nicht vom Corporate Designer trennen. Sie will Einblicke in Aichers Denk- und Arbeitsweise vermitteln, sein Werk in einem umfassenden Kontext begreifbar machen.

Otl Aicher gilt als einer der prägenden deutschen Designer im 20. Jahrhundert. Dabei ist die Berufsbezeichnung „Designer“ viel zu kurz gegriffen: Aicher dachte und handelte in seinen verschiedenen Rollen universalistisch. Betrachtet man seine Tätigkeit als Hochschulgründer, Grafiker, Typograf, Unternehmensberater, Bildhauer, Philosoph und Autor in der Gesamtschau, so wirkte er als eingreifend gestaltender Intellektueller. Design verstand er stets im ursprünglichen Sinne des Begriffs „disegno“ – als umfassenden Entwurf der Welt im Denken wie im Machen.

Ausgehend von seinen persönlichen Erlebnissen im nationalsozialistischen Deutschland entwickelte Aicher sein Denken in Begegnungen mit dem Kreis der Geschwister Scholl. Nach 1945 versuchte er seine Erkenntnisse zu Freiheit und Aufklärung praktisch wirksam werden zu lassen. Die durch seine spätere Ehefrau Inge Scholl 1946 initiierte Volkshochschule Ulm (vh ulm) war ein frühes Betätigungsfeld als Grafiker.

Die vernunftgemäße Ordnung der Dinge

Gemeinsam mit Inge Aicher-Scholl und Max Bill gründete Aicher 1953 die Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG). Gegen Bills Intentionen, der sie in der Nachfolge des Bauhauses sah, setzte Aicher verstärkt auf Design, verabschiedete sich von Kunst, liebäugelte eine kurze Zeit zumindest mit der Wissenschaft. In Ulm – und auch in Yale und Rio de Janeiro – lehrte er „Visuelle Kommunikation“, den Begriff hatte er mitgeprägt. An der HfG fungierte er als Mitglied des Rektoratskollegiums, später als Rektor.

Unter Aichers Leitung entstanden in Ulm grafische Erscheinungsbilder für Unternehmen wie Braun und die Lufthansa, die bis in die Gegenwart sichtbar sind. Ab 1967 arbeitete Aicher als Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele 1972 in München. Der Gastgeber Deutschland solle sich ohne Pathos zeigen: als freiheitlicher, verlässlicher Partner in der Völkergemeinschaft, von dem keine Bedrohung ausgeht. Elementarer Bestandteil für diese Imagebildung war Aichers visuelles Erscheinungsbild einschließlich der heute weltweit verbreiteten Piktogramme. Sein Entwurf transportierte und unterstützte sportliche wie programmatische Inhalte. Im Jahr von Aichers Geburtsjubiläum jährt sich die Eröffnung der Olympischen Spiele 1972 zum 50. Mal.

Es ging Aicher um eine vernunftgemäße Ordnung der Dinge und ein an Regeln orientiertes Entwerfen im Machen. Freiheit und Ordnung sind darin kein Gegensatz. Nicht ohne Grund wurde er einmal als „Anarchist mit Sinn für Ordnung“ bezeichnet.

Internetpräsenz und Veranstaltungen sollen dem „Denker am Objekt“, so seine Selbstcharakterisierung, gerecht werden, dem Mann, der Tun stets intensiv reflektierte und begründete. Ausflüge in Philosophie, Politik oder Architektur begleiteten die Entwicklung seiner Arbeit. In seinen heute noch Maßstäbe setzenden Erscheinungsbildern, Plakaten, Buchgestaltungen, Piktogrammen sind seine grundlegenden Vorstellungen von einer gestalteten Welt aufgehoben. Und dabei stehen Otl Aichers Werk und Ideen oftmals in einem Spannungsverhältnis.

Aichers Bestreben, verbindliche Regeln, gültige Methoden zu definieren, steht im Kontrast zu einer Suche mit offenem Ausgang und bringt Brüche mit sich, die eine besondere Vitalität begründen. Das Projekt „otl aicher 100“ will Widersprüche nicht leugnen, Aspekte des Werks zueinander in Beziehung zu setzen, zudem als Einstieg für die zielgerichtete Auseinandersetzung mit Einzelwerken dienen. Die Vielfalt und Interdisziplinarität des Werks verspricht Erkenntnisgewinn. Flankiert wird die Internetpräsenz im Jubiläumsjahr durch physische Veranstaltungen, die als Stream zudem virtuell zugänglich sind.

Initiatoren des Projektes sind Florian Aicher und Kai Gehrmann. Träger ist das IDZ Internationales Design Zentrum Berlin e. V. Die fachliche und didaktische Qualität gewährleistet ein Redaktionsteam mit ausgewiesener Kenntnis von Aichers Person und Werk.