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Barock, Alpen, Bodensee

Mit Otl Aicher durch Süddeutschland: Anleitung für eine Reise in die Heimat des Designers

Aicher schätzte die Lüftlmalerei, jene illusionistische und oft volkstümliche Fassadenmalerei, mit der die Menschen im Süden der Republik und im Alpenraum ihre Häuser verschönerten. Für ihn war dies eine vormoderne Form von Kommunikationsdesgin.

Rotis, irgendwann in den Achtzigerjahren: Otl Aicher schreibt ein Script für eine Tour durch Süddeutschland mit dem Titel „long weekend barock, alpen, bodensee“. In dieser Reiseanleitung, die sich heute in Aichers Nachlass findet, zeigt sich der vermeintlich kompromisslos rationale Designer von seiner sinnlichen, lebensfrohen Seite. Kultur und Kulinarik stehen auf seinem Programm, Kirchen und Schlösser im Landstrich zwischen Oberbayern und Württemberg; ebenso Wirtshäuser. Alle empfohlenen Orte kannte Aicher aus eigener Anschauung. Ob diese Reise freilich je so stattgefunden hat oder lediglich eine Empfehlung für Freunde ist, das muss offenbleiben.

Wer heute ein verlängertes Wochenende plant, denkt möglicherweise an ein paar sonnige Tage südlich der Alpen. Vielleicht auch an einen kurzen Trip nach Wien, Lissabon oder Paris. Otl Aicher hatte anderes im Sinn: „long weekend barock, alpen, bodensee“. Das ist der Titel eines undatierten und bislang nicht publizierten Aicher-Textes aus den Achtzigerjahren. Der Gestalter lädt ein, die Schönheiten Süddeutschlands zwischen Oberbayern und Württemberg zu entdecken.1 Kultur und Kulinarik stehen auf dem Programm. Nicht nur Museen, Burgen, Klöster und Schlösser sollen gewürdigt werden, sondern auch die Restaurants dieser Regionen; es gilt, dem „duft bäuerlicher kochkunst“ zu folgen.2 Schweinebraten und helles Bier im Allgäu, Spargel und Württemberger Rotwein beim Albaufstieg: Für Abwechslung ist gesorgt. In Aichers Reiseplanung kommen Genüsse vielerlei Art nicht zu kurz.

Die Landstriche zwischen Alpen und Bodensee sind jene Regionen, in denen Aicher sein Leben verbrachte. Auf der geschichtsträchtigen Strecke zwischen München und Stuttgart warten die Schlösser Ludwigs II., historische Altstädte mit ihren bemalten Häuserfassaden und Kirchen des oberschwäbischen Barocks. Auch die Natur zeigt sich vielfältig: glitzernde Seen, tiefgrüne Tannen- und hellgrüne Laubwälder, königsblauer Himmel oder das herrliche Alpenpanorama. Kontraste sollen die Reise bestimmen; Städte und Dörfer, bewohnt von Bayern und Schwaben, Katholiken und Protestanten. Und „wenn man glück hat, fährt man im föhn, dem südlichen bergwind, der den himmel putzt und ihm eine tiefe gibt, wie nirgends sonst in deutschland“3.

Der Text „long weekend. barock, alpen, bodensee“ zeigt Otl Aicher von einer sinnlichen, lebensfrohen Seite und beweist, dass er durchaus weniger streng und dogmatisch sein konnte als vielfach angenommen. Das Reiseprogramm ist dicht. Für das verlängerte Wochenende plante Aicher drei Übernachtungen und einen Mietwagen ein, mit dem die ungefähr 400 Kilometer lange Strecke zurückgelegt werden sollte.

Aichers Tour:
(zusammengefasst durch den Autor)4

Anreise

  • Abends: Ankunft Flughafen München-Riem. Fahrt nach Ettal, dort Übernachtung im Klosterhotel „Ludwig der Bayer“

Tag 1

  • Vormittags: Besichtigung von Schloss Linderhof und der Lüftlmalerei in Oberammergau
  • Mittags: Einkehr in „Die Post“ in Steingaden, anschließend Besichtigung des Schlosses Neuschwanstein
  • Nachmittags: Stopp in Weißensee und Besichtigung des Pfarrhauses, Weiterfahrt nach Kempten, Aussicht auf das Alpenpanorama in Buchenberg
  • Abends: Einkehr und Übernachtung im Gasthof „Zum Adler“ in Großholzleute

Tag 2

  • Vormittags: Besichtigung der historischen Stadtkerne von Isny und Wangen. Weiterfahrt an den Bodensee und Spaziergang an der Hafenpromenade von Lindau
  • Mittags: Zwei Möglichkeiten: Einkehr im „Rad“ in Tettnang ODER im „Waldhorn“ in Ravensburg
  • Nachmittags: Besichtigung der gotischen Kirche „Unserer Lieben Frau“ in Ravensburg, des Barockensembles im oberschwäbischen Weingarten und der Dorfkirche in Steinhausen,5 bei Belieben Abstecher zum Barockkloster Obermarchtal.
  • Abends: Einkehr und Übernachtung in der „Kleber-Post“ Saulgau

Tag 3

  • Vormittags: Weiterfahrt in Richtung Schwäbischer Alb, Besichtigung der Zwiefalten Klosterkirche
  • Mittags: Überquerung der Alb, Besichtigung von Bad Urach und Verköstigung mit Württemberger Wein
  • Nachmittags: Besichtigung der Universitätsstadt Tübingen. Weiterfahrt nach Bebenhausen, dort Besichtigung der gotischen Klosteranlage und der Laubwälder des Schönbuchs. Einkehr im Gasthof „Sieben Mühlenthal“ und Aufbruch zum Flughafen Stuttgart-Echterdingen.

Aichers Regionen. Ausschnitt aus: Deutsche Landschaften, in: Lufthansa, Deutsche Bundesbahn (Hrsg.) Reisen in Deutschland. 1968, S. 21.

Die barocke Wallfahrtskirche Steinhausen gehöre, so Aicher, „zu den „schönsten Dorfkirchen, die man sich denken kann“. Sie wurde in den Jahren 1728 bis 1731 von dem berühmten Baumeister Dominikus Zimmermann und seinem Bruder Johann Baptist Zimmermann entworfen. © Oberschwaben Tourismus. / Die Färbung der Pflanzen, die Formen der Berge und der süddeutschen Barockkirchen inspirierten ihn: Otl Aicher entwarf farbenfrohe / Wolken- und Landschaftsformationen sowie barocke Formen haben Aicher stets interessiert: Das zeigen seine frühen Volkshochschulplakate aus den frühen Fünfzigerjahren. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm. / Lyrik und Landschaft: Cover der ersten Ausgabe des Bändchens „Freude am Gedicht“ von Albrecht Goes. Das Impressum vermerkt: „Schutzumschlagentwurf von Otl Aicher“, Januar 1952. Sammlung Fabian Wurm © S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.

Lüftlmalerei: Kommunikationsdesign im Zeichen des Barocks

Oberammergau steht als erstes Ziel auf Aichers Liste. Die Gemeinde, gelegen zwischen Murnauer Moos und Zugspitze, ist nicht nur bekannt für die Passionsspiele, sondern zählt ebenso zu den Zentren der deutschen Lüftlmalerei, einer Freskotechnik, bei der Farbpigmente auf eine frische Putzschicht aufgetragen werden. Von Italien kommend, breitete sich die Vorliebe für bemalte Fassaden seit dem 18. Jahrhundert auch in Süddeutschland aus. Die Motive sind vielfältig; sie können profan sein und auf ein Geschäft oder ein Lokal verweisen oder aber auch sakrale Themen zeigen.

Bevor es das Kommunikationsdesign, Bildmarken und Lichtwerbung im Sinne von Corporate Identity gab, waren es die Handwerker und Maler, die sich der Fassaden annahmen: Schmiedeeiserne Ausleger, handgemalte Buchstaben und Malereien prägten das historische Straßenbild in zahlreichen süddeutschen Gemeinden und erinnern noch heute an die alte Tradition visueller Kultur im öffentlichen Raum. Die Idee einer „visuelle Volkssprache“, die allgemein verständlich war, hatte Otl Aicher über Jahre hinweg begleitet, so erinnert sich sein Sohn Florian heute.6

In Oberammergau erreichte die barocke Fassadenmalerei unter Franz Seraph Zwinck ein neues Niveau: Die gemalten Szenen sind illusionistische Meisterwerke, die auf den einfachen Fassaden geradezu utopische Architekturszenen entstehen lassen. Zusammen mit seiner Frau Inge und dem ehemaligen Bauhausmeister Josef Albers machte sich Aicher in den Fünfzigerjahren auf die Reise, um die „grafische Kultur“7 Süddeutschlands zu entdecken. Trotz aller betonten Skepsis gegenüber der Kunst konnte er sich der sinnlichen, künstlerischen Qualität der Lüftlmalerei offenbar nicht entziehen. Auch seinem Hochschulkollegen, dem Grafiker Herbert W. Kapitzki etwa, blieb diese Seite Aichers nicht verborgen. So schrieb Kapitzki, der von 1964 bis 1968 an der Ulmer HfG lehrte, „daß Otl Aicher bei aller ästhetischen Rigorosität ein volkstümliches Ambiente und regional angesiedelte Romantik liebte.“8

Lüftlmalerei ist eine Variante des Trompe-l’œil aus dem Barock, die sich seit dem 18. Jahrhundert im süddeutschen und österreichischen ländlichen Raum verbreitete. Abbildung aus der Publikation: Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, Deutsche Zentrale für Fremdenverkehr, Deutscher Fremdenverkehrsband: Bundesrepublik Deutschland. Reiseland zwischen München und Kiel den Städten der Olympischen Spiele 1972, München 1968, S. 27.

Lüftlmalerei ist eine Variante des Trompe-l’œil aus dem Barock, die sich seit dem 18. Jahrhundert im süddeutschen und österreichischen ländlichen Raum verbreitete. Abbildung aus der Publikation: Organisationskomitee für die Spiele der XX. Olympiade München 1972, Deutsche Zentrale für Fremdenverkehr, Deutscher Fremdenverkehrsband: Bundesrepublik Deutschland. Reiseland zwischen München und Kiel den Städten der Olympischen Spiele 1972, München 1968, S. 27.

Aicher begriff die Lüftlmalerei Aicher als visuelle Volkssprache. In seinen Fotos hat er ihre Motive festgehalten, so auf der Fassade des Gasthofs zum Stern, Ötz / Tirol, frühe Fünfzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai F 0097

Aicher begriff die Lüftlmalerei Aicher als visuelle Volkssprache. In seinen Fotos hat er ihre Motive festgehalten, so auf der Fassade des Gasthofs zum Stern, Ötz / Tirol, frühe Fünfzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Ai F 0097

Neuschwanstein: historistische Attrappe und technisches Wunderwerk

Nach dem Spaziergang in Oberammergau und einer kulinarischen Stärkung soll der Ausflug weiter in Richtung Schloss Neuschwanstein gehen. Das als Märchenschloss bekannt gewordene Lieblingsprojekt des bayerischen Königs Ludwig II. ist nicht nur eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten in Deutschland, sondern gilt auch als ein Hauptwerk des Historismus. Für Aicher war der Historismus des 19. Jahrhunderts mit seinen Staffagen und eklektizistischen Stilaneignungen ein rotes Tuch, denn er haderte mit dem „Kitsch“9, den diese Strömung hervorbrachte. Wo die Form nicht Resultat einer Gestaltung, sondern ihr „Ausgangspunkt“ sei, manifestiere sich eine Krise in der Gestaltung, sagte Aicher.10 Hier zeigt sich der durch den Funktionalismus geprägte Gestalter: Eine historistische Architektur verwendet architektonische Merkmale wie Bossenwerk, Gewölbe und Zinnen nicht hinsichtlich eines angedachten Nutzens, sondern allein als ästhetisches Zitat. In diesem Sinne hat Aicher Schloss Neuschwanstein – bezeichnenderweise im englischsprachigen Raum auch als „Disney Castle“ geläufig – als eine Attrappe verstanden.

Besucht hat Aicher das Schloss trotzdem immer wieder. Seine Aufnahmen haben Eingang gefunden in seinen Bildatlas „Flugbild Deutschland“ und in die Drucksachen, die für die Bewerbung der Olympischen Spiele im München 1972 herausgegeben wurden. Die „aufwendige Filmarchitektur“11, wie Aicher die Schlösser des bauwütigen Märchenkönigs nannte, ist bis heute unauflöslich mit der Vorstellung von historischer Architektur in Süddeutschland verbunden. Dass Ludwig II. bei aller Liebe für stilistische Exzesse durchaus modern baute, Neuschwanstein mithilfe von Doppel-T-Stahlträgern errichtete und mit einer zentralen Heißluft-Heizanlage sowie einem mechanisch versenkbaren Tisch und seinerzeit neuer Elektrizitätstechnik ausstatten ließ, wissen jedoch nur noch die wenigsten.

Allgäuwiesen nahe Isny mit jungen Pappeln im Herbstlicht. Aus: Aicher/Rudolf Sass: Flugbild Deutschland, Praesentverlag Heinz Peter, Gütersloh 1968.

Allgäuwiesen nahe Isny mit jungen Pappeln im Herbstlicht. Aus: Aicher/Rudolf Sass: Flugbild Deutschland, Praesentverlag Heinz Peter, Gütersloh 1968.

Otl Aicher fotografierte Schloss Neuschwanstein mit einer Hasselblad-Kamera auf Kodak-Ektachrome-Filmen, Sechzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm

In der Werbung der Lufthansa tauchen die Neuschwanstein-Motive allenthalben auf. © Deutsche Lufthansa AG, Firmenarchiv.

Aichers Fotos von Neuschwanstein wurden zum festen Bestandteil des Deutschlandbildes der Sechzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm

In der Werbung der Lufthansa tauchen die Neuschwanstein-Motive allenthalben auf. © Deutsche Lufthansa AG, Firmenarchiv.

Schönheiten der Landschaft, Farben des Allgäus

Nach der kritischen Auseinandersetzung mit der historistischen Architektur möchte Aicher mit dem Blick auf die Schönheit der Landschaft entlohnen. Von Neuschwanstein kommend, liegt, südlich von Kempten, der kleine Ort Buchenberg. Aicher empfiehlt, hier anzuhalten und den herrlichen Panoramablick auf die Allgäuer Alpen zu genießen. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass die am Horizont aufragende Alpenkette Aicher zu der Wahl der Farbe „lichtes Blau“ als Leitfarbe des Erscheinungsbildes für die Olympischen Spiele in München 1972 beeinflusst habe. Die Inspiration für die Farbpalette des olympischen Erscheinungsbildes – helles Blau, helles Grün, dunkles Blau, dunkles Grün und Silber – hat Aicher tatsächlich in der süddeutschen Landschaft vorgefunden; und zwar am Kirchsee bei Bad Tölz.

Florian Aicher erinnert sich, dass sein Vater ihm den Badesee mit seinem Panorama gezeigt und erklärt habe, man müsse den Kopf um 90 Grad neigen, damit der Farbcode der Landschaft besser zur Geltung käme.12 Auch die beiden Hauptfarben seines Erscheinungsbildes für den Münchner Flughafen nehmen später wieder das „Farbklima des bayerischen Alpenvorlandes und seines Föhnhimmels“ auf.13

Formen und Farben des bayerischen Alpenvorlandes haben Aicher bei seiner Arbeit inspiriert.

Das Alpenpanorama selbst wurde bei Aichers Arbeit an dem Erscheinungsbild der Olympiastadt München zu einem Leitmotiv. Eine außergewöhnliche Inszenierung der Alpenkette findet sich in einer Fremdenverkehrsbroschüre, mit der sich die Stadt München vorstellte. Man sieht eine Collage von vier Aufnahmen, die geschickt in einem stark horizontalen Format zusammengestellt wurden, wobei sich München (hier im untersten Bild nur durch die Spitze des Fernsehturms ausgewiesen) perfekt in die Natur des Alpenvorlandes einfügt. Doch genauso wie Aicher diese Landschaft liebte, genauso fürchtete er auch um die Existenz dieser Schönheit: Denn hier sollten in den frühen Achtzigerjahren mit dem Nato-Doppelbeschluss die Pershing-II-Raketen mit atomaren Sprengköpfen stationiert werden. In seinem Plakat „im schönsten wiesengrunde“ von 1983 zeigte Aicher einen trügerischen Frieden: Die kegelförmigen, aufragenden Gebilde vor dem Panorama der lieblichen Hügellandschaften sind keine Kirchtürme, sondern Mittelstreckenraketen, die im Falle des Krieges gezündet werden sollten und das ländliche Idyll im Handumdrehen in ein militärisches Operationsgebiet verwandelt hätten. Aicher hätte die Sorge um die Heimat, die ihm lieb ist, kaum subtiler und beklemmender zugleich ausdrücken können.

Vexierbild: Raketen stehen „im schönsten Wiesengrunde": Plakat für die Friedensbewegung, 1983. Entwurf: Otl Aicher © Florian Aicher, Rotis / HfG-Archiv / Museum Ulm.

Vexierbild: Raketen stehen „im schönsten Wiesengrunde": Plakat für die Friedensbewegung, 1983. Entwurf: Otl Aicher © Florian Aicher, Rotis / HfG-Archiv / Museum Ulm.

Ein zweischneidiges Verhältnis: Aicher und der Barock

Kloster Ettal, Wieskirche Steingaden, die Wallfahrtskirche Steinhausen, die Basilika St. Martin in Weingarten, die Klosteranlage in Zwiefalten – aus Aichers Rundreise ist der Barock nicht wegzudenken. Im Jahr 1966 taten sich die süddeutschen Barockgemeinden zusammen und riefen tourismuswirksam die oberschwäbische Barockstraße ins Leben. Denn anders als der schwere Barock Roms, sind die Bauten im Süden Deutschlands, so Aicher, besonders „anmutig, menschlich und heiter“, wie sie nirgendwo sonst zu finden seien.14 Während sich der Norden nach der Reformation der protestantischen Zurückhaltung verschrieben hatte, blieb der deutsche Süden über weite Teile katholisch und läutete mit dem visuellen Programm des Barocks die Gegenreformation ein.

Aichers Verhältnis zum Barock ist ambivalent: Einerseits schätzte der bekennende Katholik die lebensbejahende Lust der barocken Stilelemente, andererseits waren ihm die Verschwendungssucht und die Herrschaftsrepräsentation nicht geheuer. So sah Aicher in den Barockkirchen auch „denkmäler des sieges“15 von Adel und Klerus über die aufbegehrenden Bürger und Bauern im Schwäbischen Bauernkrieg. Erstmals in der Geschichte überhaupt hatten schwäbische Landleute und Reichsstädter gleiches Recht für alle eingefordert; doch ihren Mut mussten sie teuer bezahlen: Die Obrigkeiten schlugen den Aufstand brutal nieder und die Bevölkerung war für weitere Jahrhunderte der Willkür ihrer Herrscher ausgesetzt.

Doch bei aller Kritik: Aicher kann die gestalterische Qualität des süddeutschen Barocks kaum verleugnen: Gerade die kleineren dörflichen Barockkirchen auf dem Land, wie etwa in der Wieskirche Steingaden oder die Wallfahrtskirche Steinhausen, hatten es Aicher angetan. Sie zählten für ihn zu den „schönsten dorfkirchen, die man sich denken kann“, denn hier verschmelzen Architektur, Skulptur, Malerei, Farbe und Material zu einem unnachahmlichen, sinnlichen Erlebnis. In diesen Räumen erinnert nichts an die kühle Zurückhaltung, für die Aichers Werk bekannt geworden ist. So ist der Barock für Aicher zugleich inspirierende Kulturleistung und Demonstration klerikaler Macht, die sich tief in die Landesgeschichte eingeschrieben haben und die Region bis heute prägen.

Links: Die St.Coloman-Kirche in Schwangau, nahe der berühmten Marienbrücke und dem Schloss Neuschwanstein. Foto: Otl Aicher © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm. Rechts: 9: Otl Aicher: Innenansichten aus der Kirche St. Coloman, Fünfzigerjahre. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm.

Schwäbische Genügsamkeit: Kloster Bebenhausen

Der letzte Stopp gilt Tübingen und der gotischen Klosteranlage Bebenhausen. Hier zeigt sich: Westlich der Alb wechseln Landschaft, Gewohnheiten und Historie. Es ist das Kernland der Württemberger Herzöge, das Alpenpanorama weicht dem Ausblick auf die laubewaldeten Höhen der Schwäbischen Alb, man trinkt Wein statt Bier, isst Linsen mit Spätzle statt Schweinebraten mit Knödel.

Nur selten zog es Aicher dorthin, doch Tübingen – eine der Geburtsstätten des deutschen Humanismus – und das Kloster Bebenhausen waren ihm Anlass genug für einen Besuch. Besonders sympathisch ist ihm die gotische Klosteranlage der Zisterzienser-Bruderschaft, die sich durch ihre Bescheidenheit auszeichnet. Sie galt Aicher sogar als ein „leitbild der schwäbischen mentalität der sparsamkeit“.16

Kloster Bebenhausen: Für Aicher das Leitbild schwäbischer Genügsamkeit ©Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.

Schlichtheit und Eleganz der Zisterzienser: Chorwand mit Ostfenster der Kirche des Klosters Bebenhausen ©Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.

Kloster Bebenhausen, Kreuzgang ©Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.

Schlichtheit und Eleganz der Zisterzienser: Chorwand mit Ostfenster der Kirche des Klosters Bebenhausen ©Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.

Der Kontrast zwischen dem verspielten Barock in Oberschwaben und der kargen Einfachheit, der man in Bebenhausen begegnet, könnte nicht größer sein und erinnert damit nicht nur an die wechselvolle Geschichte des Landes, sondern auch an die Pole, zwischen denen Aicher sich bewegte. Bezeichnenderweise ist die HfG Ulm, die Aicher mit aufbaute und viele Jahre als Dozent begleitete, nicht selten als ein „Designkloster“ bezeichnet worden, denn ästhetische Genügsamkeit, Rückbesinnung auf die Einfachheit und funktionale Gestaltung hat es nicht nur in gotischen Klöstern, sondern auch in der Designauffassung der Ulmer Hochschule gegeben.

Primat der Konstruktion: Ulmer Gotik

Unter allen historischen Schulen der Architektur ist Aicher der Gotik am engsten verbunden, als Sohn der ehemaligen Reichsstadt Ulm hat sie ihn von klein auf begleitet. Die Vorliebe für die Gotik hat aber auch damit zu tun, dass er hier die Maxime wiederfand, die er in seinen eigenen gestalterischen Ansätzen verwirklicht sah. Anders als in der Architektur des Barocks, so konstatierte Aicher, seien stilistische Merkmale gotischer Architektur wie Strebebögen und Kreuzrippengewölbe stets Ergebnis statischer Überlegungen. Der gotische Spitzbogen ist kein ästhetisches Stilmittel – „wie unsere beseelten kunsthistoriker annahmen“, sondern „resultat eines konstruktionsprozesses“.17 In der gotik habe es für die religion nicht einmal eines symbols beduft; „die kirchen ergaben sich aus der konstruktion“.18

Um dies zu verdeutlichen, hat er immer wieder das Ulmer Münster aus verschiedenen Blickwinkeln festgehalten. In Aichers fotografischem Nachlass finden sich zahlreiche Aufnahmen von Details dieser größten gotische Kirche Süddeutschlands mit ihrem bis heute höchsten Kirchturm der Welt.

Das Ulmer Münster hat Otl Aicher oft mit seiner Kamera festgehalten; die Fotos stammen aus der Zeit zwischen 1949–1955. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm, Arch Ai F 1573, 713, 1575.

Auch für die Gestaltung der Festschrift „1100 Jahre Ulm“ nutzte der Designer seine Aufnahmen vom Ulmer Münster. Entwurf: Otl Aicher für die J. Ebner’sche Druckerei, 1954 © / Ebner Media, Ulm.

Aichers Fotos zeigen das Strebe- und Maßwerk sowie Spitzbögen der gotischen Kirche. © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm.

Auch für die Gestaltung der Festschrift „1100 Jahre Ulm“ nutzte der Designer seine Aufnahmen vom Ulmer Münster. Entwurf: Otl Aicher für die J. Ebner’sche Druckerei, 1954 © / Ebner Media, Ulm.

Vierung des Ulmer Münsters. Foto: Otl Aicher HfG-Archiv / Museum Ulm © Florian Aicher, Rotis.

Vierung des Ulmer Münsters. Foto: Otl Aicher HfG-Archiv / Museum Ulm © Florian Aicher, Rotis.

Aichers Aufnahmen des Ulmer Münsters stammen aus den frühen Fünfzigerjahren. HfG-Archiv / Museum Ulm © Florian Aicher, Rotis.

Vierung des Ulmer Münsters. Foto: Otl Aicher HfG-Archiv / Museum Ulm © Florian Aicher, Rotis.

Auf ein Helles: Lebensart und Heimat

Zum Abschluss der Reise empfiehlt Aicher eine Einkehr im Schönbuch, Siebenmühlental; idyllisch gelegen in den Laubwäldern zwischen Tübingen und Stuttgart. Als wäre man nicht schon gesättigt von all den Köstlichkeiten, denen man zuvor schon zugeran war: Knödel, Schweinebraten und Fassbier im Allgäu, Leberkäs im Wecken in Isny, frischer Spargel in Ravensburg und ein Viertele (württembergischer Wein) in Bad Urach. Zweifellos war Aicher der süddeutschen Lebensart mit ihren mitunter deftigen Spezialitäten zugetan. Meine Großtante Rosa Salzgeber, die einige Jahre bei den Aichers in Rotis die Hauswirtschaft stemmte und dort täglich aufkochte, konnte ein Lied davon singen.

Die Begeisterung für süddeutsche Kulinarik wird auch in den 136 grafischen Motiven, die Aicher für das Erscheinungsbild der Stadt Isny im Allgäu entworfen hat, deutlich: Brezeln, Steckerlfisch, Radi, Maßbier und Allgäuer Emmentaler – sie alle wurden in den Bildzeichen der Gemeinde verewigt und stehen damit symbolisch für die kulinarische Tradition im deutschen Süden. Eingedenk Aichers Heimatverbundenheit erscheinen die Bildzeichen gar nicht mehr so objektiv und rational begründet, sondern vielmehr als ein Ergebnis empathischer Beobachtungen und einer eigenen Interpretation seiner Heimat. Die Piktogramme für Isny sind sicherlich sein wohl am meisten persönlich geprägtes Erscheinungsbild.

Otl Aicher: Rückstände von Bierschaum im Willibecher, Fünfzigerjahre © Florian Aicher, Rotis; HfG-Archiv / Museum Ulm.

Otl Aicher: Biergarten, grafisches Motiv und Piktogramme für das Erscheinungsbild des Allgäus (bei Isny) © Stadt Isny.

Otl Aicher: Maßkrüge, grafisches Motiv für das Erscheinungsbild des Allgäus (bei Isny), 1985 © Stadt Isny.

Otl Aicher: Biergarten, grafisches Motiv und Piktogramme für das Erscheinungsbild des Allgäus (bei Isny) © Stadt Isny.

Viele der Orte, die Aicher für sein langes Wochenende vorschlägt, hat er immer wieder in seinem Leben besucht; sie sind unauflöslich mit seiner Biografie und seinem Schaffen verbunden: das Alpenpanorama, die kleinen Barockkirchen und gotischen Anlagen, die Gasthäuser. Viele dieser Orte tauchen auch in der Bewerbung für die Olympischen Spiele in München oder in seiner Arbeit für die Lufthansa wieder auf.19 Dort sind Orte wie Neuschwanstein, Oberammergau, die Wieskirche bei Steingaden oder St. Coloman in Schwangau – Aichers Lieblingskirche – zum Ausdruck eines friedlichen, traditions- und geschichtsreichen Deutschlands erhoben worden. Gerne hat Aicher die Schätze seiner Heimat nicht nur seiner Familie, seinen Freunden, sondern auch seinen Gästen aus aller Welt gezeigt. Warum also nicht selbst einmal – auf Aichers Spuren – diese Gegend zwischen Alpen und Bodensee erkunden, die geprägt ist von Barock und Gotik? Verspielte Kirchen, bunt bemalte Häuser, abwechslungsreiche Landschaften und die herrliche Landesküche: Süddeutschland bietet viel für einen Besuch und lädt dazu ein, das Bild von Otl Aicher um neue Facetten zu erweitern.

Otl Aicher (rechts) im Gespräch mit dem argentinischen Designtheoretiker und späteren HfG-Rektor Tomás Maldonado vor einem historischen Fachwerkhaus, um 1955. Foto: Sigrid von Schweinitz. HfG-Arch Schw 03.235 © HfG-Archiv / Museum Ulm.

Otl Aicher (rechts) im Gespräch mit dem argentinischen Designtheoretiker und späteren HfG-Rektor Tomás Maldonado vor einem historischen Fachwerkhaus, um 1955. Foto: Sigrid von Schweinitz. HfG-Arch Schw 03.235 © HfG-Archiv / Museum Ulm.

Der Autor dankt Florian Aicher für zahlreiche Informationen und die viele Zeit mit anregenden Gesprächen in Rotis.

Linus Rapp ist Historiker und freier Kurator. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Gestaltung ausstellen“ war er zwischen 2017 und 2020 Mitarbeiter am HfG-Archiv / Museum Ulm. 2020 wurde er mit einer Dissertation zum Thema Ausstellungsgestaltung an der HfG Ulm promoviert, arbeitete als wissenschaftlicher Volontär an der Neuen Sammlung – The Design Museum München und ist gegenwärtig für die Öffentlichkeitsarbeit des Kompetenzzentrums und Netzwerks Bayern Design zuständig. Er kocht gerne Kässpätzle nach altem Allgäuer Familienrezept.

Anmerkungen

1. Otl Aicher: long weekend barock, alpen, bodensee. Undatiert. HfG-Arch Ai Az 3444. Das Schriftbild der verwendeten Schreibmaschine legt eine Entstehung des Texts in den Achtzigerjahren nahe.

2. ebenda

3. ebenda

4. Zusammenfassung von Linus Rapp nach: Otl Aicher: long weekend barock, alpen, bodensee. Undatiert. HfG-Arch Ai Az 344

5. Otl Aicher: long weekend …, a.a.O.

6. Spaziergang mit Florian Aicher in Rotis, 27. April 2023.

7. Otl Aicher an Hubert Abreß, 28. März 1967, in: StadtA München Oly 117.

8. Herbert W. Kapitzki: Gestaltung: Methode und Konsequenz. Ein biografischer Bericht. Stuttgart, London. 1997, S. 31.

9. Otl Aicher: Seminar Ausstellungsgestaltung, 1960. HfG-Arch Ai Az 564.

10. Herbert W. Kapitzki, a.a.O., S. 31.

11. Otl Aicher: long weekend …, a.a.O.

12. Spaziergang mit Florian Aicher in Rotis, 27.April 2023.

13. Flughafen München GmbH: Flughafen München Gestaltungsrichtlinien Grafik. München 2003, S. 10.

14. Otl Aicher: long weekend barock, alpen, bodensee. Undatiert. HfG-Arch Ai Az 3444. Das Schriftbild der verwendeten Schreibmaschine legt eine Entstehung des Texts in den Achtzigerjahren nahe.

15. Otl Aicher: innenseiten des krieges. Frankfurt am Main 2004², S. 190–191 u. S. 210. Vgl. Otl Aicher: Welt als Entwurf. Berlin 1991. S. 100.

16. Otl Aicher: long weekend barock, alpen, bodensee. Undatiert. HfG-Arch Ai Az 3444. Das Schriftbild der verwendeten Schreibmaschine legt eine Entstehung des Texts in den Achtzigerjahren nahe.

17. Otl Aicher: long weekend barock, alpen, bodensee. Undatiert. HfG-Arch Ai Az 3444. Das Schriftbild der verwendeten Schreibmaschine legt eine Entstehung des Texts in den Achtzigerjahren nahe, S. 209.

18. Otl Aicher, in: Eine andere Moderne, Otl Aicher im Gespräch mit Nikolaus Kuhnert, Arch+, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Heft 98, April 1989, S. 23.

19. Organisationskomitee für die Olympischen Spiele München 1972 (Hrsg.) Offizieller Bericht, Bd. 1. München 1974, S. 386.