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otl aicher 100: Onlineplattform und Veranstaltungsreihe

Das Internationale Design Zentrum Berlin (IDZ) nimmt Otl Aichers hundertstes Geburtsjubiläum zum Anlass, diesen großen Gestalter zu würdigen und sein Werk sichtbar zu machen. Eine Onlineplattform und eine Reihe von Veranstaltungen werden den vielfältigen Themenkosmos von Otl Aicher aufgreifen und von verschiedenen Perspektiven beleuchten.

Berlin, 31. März 2022 – Otl Aicher (1922 – 1991) zählt zu den prägendsten Designern des 20. Jahrhunderts. International bekannt wurde er vor allem als Gestaltungsbeauftragter der Olympischen Spiele 1972 in München. Die Berufsbezeichnung „Designer“ wäre jedoch für Aicher zu kurz gegriffen: Er dachte und handelte in seinen verschiedenen Rollen universalistisch. Betrachtet man seine Tätigkeit als Hochschulgründer, Grafiker, Typograf, Unternehmensberater, Bildhauer, Philosoph und Autor in der Gesamtschau, so wirkte er als eingreifend gestaltender Intellektueller. Design war für ihn „Zivilisationsarbeit“. Die HfG Ulm, die er 1953 gemeinsam mit seiner Frau Inge Aicher- Scholl und Max Bill gründete, stand für einen Neuanfang, ein „anderes Deutschland“.

„Otl Aichers Wirken war richtungsweisend, sein Lebenswerk außerordentlich“, erklärt IDZ-Mitglied Kai Gehrmann, der künstlerische Leiter von „otl aicher 100“. „Als Gestalter und Intellektueller, als Humanist und Kämpfer und als kritischer Denker ist er heute aktueller denn je. Sein ‚Leben im Machen‘ – sein Optimismus, sein unbedingter Glaube, in die Welt gestaltend eingreifen zu können, haben bis heute ihre Gültigkeit bewahrt – und lohnen eine vertiefende Auseinandersetzung.“

Am 13. Mai 2022 jährt sich der Geburtstag von Otl Aicher zum hundertsten Mal. Auf Initiative von Kai Gehrmann und Florian Aicher nimmt das Internationale Design Zentrum Berlin dieses Datum zum Anlass, Leben und Werk dieser vielschichtigen und oftmals auch ambivalenten Persönlichkeit zu erschließen. Unter dem Titel „otl aicher 100“ wird eine Internetpräsenz entstehen – ein kuratierter Raum, der zum Diskurs einlädt und als Plattform dient. Darüber hinaus werden in einer Reihe von Veranstaltungen Themen aus Aichers Werk aufgegriffen und mit aktuellen Fragestellungen verbunden. Die Auftaktveranstaltung findet am 13. Mai in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin statt. Anknüpfend an seinen Essay „kulturen des denkens“ wird es um Ethik und die kulturellen Dimensionen der künstlichen Intelligenz gehen. Weitere Informationen und Anmeldung unter: idz.de

Zeitgleich wird unter otlaicher100.de die Onlineplattform freigeschaltet. Weitere Veranstaltungen in Kooperation mit der Akademie der Künste, dem Deutschen Werkbund Berlin und dem HfG-Archiv Ulm sind in Planung.

Redaktionsteam:
Florian Aicher, Thomas Edelmann, Prof. Dr. Chup Friemert, Kai Gehrmann (Künstlerischer Leiter), Jasmin Jouhar, Katharina Kurz, Prof. Dr. Dagmar Rinker, Gerrit Terstiege und Fabian Wurm (Chefredakteur)

Förderer:
Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Unternehmenspartner:
Bulthaup GmbH & Co KG; ERCO GmbH; FSB Franz Schneider Brakel GmbH + Co KG

Weitere Förderer und Kooperationspartner:
Bauhaus Dessau e.V.; Akademie der Künste, Berlin; Deutscher Werkbund Berlin e.V.; HfG-Archiv Ulm

Medienpartner:
ARCH+; brand eins; ndion

Neun Buchstaben, senkrecht

Neun Buchstaben, senkrecht

OBJEKT TROUVÉ.

Marcel rennt ums Haus und ruft: Otl schnell, ein Igel! Der eilt herbei, bückt sich und taucht empört wieder auf – der Neunjährige, das antiautoritäre Kinderladenkind, hat ihn, die Autorität schlechthin, gefoppt und lacht auch noch und alle schauen – ein Igel sitzt da schon, aber einer von Steiff.

TYPOGRAFIE UND TURBINE.

Das großformatige Werk über Typografie, das Aicher 1988 veröffentlichte, enthält die Summe seiner Erfahrungen mit Schrift, ihrer Gestaltung und Anordnung. Die Tradition, in der er sich wie der Fisch im Wasser bewegt, ist die der „Swiss Typography“. Dem bedeutendsten Schriftgestalter der After-Times-Time, dem Schweizer Adrian Frutiger und seiner Univers, verdankt Aicher viel. Weniger bekannt ist die Affinität zwischen Herkunft (Sanitär-Handwerk), dem Funktionsprinzip einer Turbine (Wasserkraftwerk in Rotis) und der Absolutheit des rechten Winkels bei Bildformaten, Raster und Satzspiegel. Seine eigene Schrift, die Rotis, ist die meistverbreitete Schrift der neunziger Jahre – von Audi bis zur Bibelgesellschaft, ob als Brotschrift oder Titelzeile, die Rotis ist unübersehbar – leider.

LESEBÜCHER FÜR DIE OBERSTUFE.

Der schönste Arbeitsplatz war die Bibliothek im Wohnhaus unterm Dach. Niemand störte mich, in meinem Schoß lag die Katze und schlief. Unternehmen, für die wir arbeiteten, suchte Aicher stets für eine Anthologie, eine Buchreihe oder eine „Werkausgabe“ zu gewinnen. Er war ein genialer Überredungskünstler. Die Buchreihen, die bei BMW und Erco, der Lufthansa und Franz Schneider Brakel entstanden sind, wurden vielfach als „schönste Bücher“ ausgezeichnet. Zeugnisse seiner Sorgfalt und Strenge bei der Gestaltung und Bildauswahl, bei Typografie und Druck.

AICHERS FARBEN.

Stuttgart Hbf, Sommer 1976. Er kam mit dem Zug, ich aus Berlin. Er war kleiner, kantiger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und trug ausschließlich Schwarz. Drei Jahre später, auf einem Bodenseeschiff, musterten wir uns verblüfft – beide in Beige. Farben faszinierten ihn schon als Kind, und er wusste unendlich viel über sie. Wenn heute von den heiteren, den farbenfrohen Spielen der Olympiade 1972 in München die Rede ist, was sehen Sie im Blick zurück? Aichers Farben! Das lichte Blau, Weiß und Silber, Tieforange und Safrangelb, das dunkle und das helle Grün.

ISNY IM ALLGÄU

hatte kein Geld für Werbung, jedoch einen begeisterungsfähigen Verkehrsamtsleiter. Zudem war alles da: die Voralpenlandschaft mit Flüssen und Eistobel, das markante Stadtbild der Türme und Tore. Statt teurer Farbbilder schuf Aicher ein schwarzweißes Zeichensystem für Anzeigen und Plakate mit Versen und Textzeilen – so von Günter Herburger: „Meine Heimatstadt macht mich immer satt.“ Aichers Isny-Zeichnungen sind auch nach einem Vierteljahrhundert unvergleichlich: bodenständig und flirrend, kraftvoll und schwebend – Zen-Piktogramme sui generis.

CAROUSEL UND CIRCULAR.

Hans Gugelot hatte 1963 für Kodak einen Diaprojektor mit Rundmagazin entworfen: Carousel. So nannten wir das Seminar, das wir im Sommer 1978 in Rotes für befreundete Fotografen organisierten. Aicher selbst war ein skeptischer Fotograf. Er misstraute der Farbfotografie, die in Stern und Geo dominierte. Er verehrte die Schwarzweiß-Dokumentaristen: W. Eugene Smith, Magnum und Life. Ein Resultat des Carousel-Seminars war „Circular – eine nicht kommerzielle und unverkäufliche Zeitschrift aus dem Bereich von Fotojournalismus und visueller Kommunikation“. Das Heft erschien im Dezember 1978, es gab kein zweites.

HOCHSCHULE FÜR GESTALTUNG.

Sie ist dreiunddreißig Jahre nach ihrer Liquidierung durch die damalige Stuttgarter Landesregierung ein viel gepriesenes Modell. Was der damalige Regierungschef Filbinger versprach: „Wir wollen etwas Neues machen und dazu bedarf es der Liquidierung des Alten“ – wurde auch von seiner Marionette Späth nicht eingelöst – eine Hochschule für Gestaltung, die Studierende aus aller Welt nach Baden-Württemberg bringt.

EI VOM BITZ.

Als ich im Januar 1977 ins Allgäu kam, da lag der Schnee hoch und verriet, dass einer bereits vor mir nach Rotis stapft: der Bitz. Der ehemalige Hofknecht, Pistolero und Marderfänger arbeitete „beim Aicher“ und das mit 76! „Hat er was zum Siede?“ fragte er und schob mir ein Ei in die Tasche. „Was überbietet die Schönheit von einem Ei, besser noch zwei Eiern, die etwas in der Farbe verschieden sind?“ Otl Aicher in seinem Buch „Die Küche zum Kochen“, für das er etliche renommierte Köche an ihrem Arbeitsplatz besuchte.

ROTIS 655 METER ÜBER NORMALNULL

war eine marode Wassermühle, die Aicher mit dem Honorar der Olympiade 1972 erwarb und zur Wohn- und Arbeitsstätte ausbaute. Über die angeblich „autonome Republik“ ist seither viel Unsinn geschrieben worden. Dabei gab es kaum einen anderen Ort, der so zwanghaft normiert und autokratisch geführt wurde wie Rotis. Von „Neurotis“ sprachen die Mitarbeiter, und die meisten gingen eher früher als später. In einer Festschrift von 1987 sind besonders auffällig die Namen derer, die im Buch fehlen: Fred Kern zum Beispiel. Kern war in Ulm, dann München und später in Rotis Aichers engster Mitarbeiter – mehr als dreizehn Jahre. Sein Anteil am Aufbau von Rotis und an Aichers grafischem Werk ist erheblich – weshalb ihn ignorieren? Fred Kern, der in Ulm lebt und als Grafiker einsame Spitze ist – salü!

CODA: SCHREIBEN UND WIDERSPRECHEN.

Das 1993 postum erschienene Buch enthält eine Sammlung „politischer Essays“ und andere Aufsätze. Beim Lesen begegnet mir jener Aicher wieder, dessen Widersprüche mein Vertrauen zerstörten. Er verflucht den Terror der tief fliegenden Militärmaschinen über sich und den Seinen und beteiligt sich am Bau des neuen Flughafens bei München. Meine Vorwürfe erreichen ihn nicht. Schmallippig schaut er an mir vorbei. Er lobpreist das kostbare Wasser und beauftragt Bitz, die Klärgrube in den Bach zu entleeren. Unbegreiflich. In seinen Aufsätzen räsoniert er gegen den Staat und die Profitgier der Unternehmen und lebt doch sehr gut von ihnen. Entweder oder. Wozu all die Theorie, das bessere Wissen, wenn es für das eigene Leben folgenlos bleibt? Der Zorn kehrt zurück über diesen mir so fremden und über sein ins Reine geschriebene Gewissen.